Von Blut-Hirn-Schranke bis PIRA: BTK-Inhibitoren in der MS-Therapie

Neue BTK-Inhibitoren können die Blut-Hirn-Schranke überwinden und greifen am Dreh- und Angelpunkt der Immunpathogenese der MS ein. Ihr Wirkbereich schließt die für die PIRA essentielle zentrale Entzündungsreaktion ein.

PIRA trotz hocheffektiver Therapeutika

Trotz hocheffektiver Therapeutika kommt es bei einem Teil der MS-Patienten weiterhin zur Krankheitsprogression. Die schubunabhängige Progression beruht u.a. auf der chronischen "schwellenden" Inflammation innerhalb des ZNS. Aktuell verfügbare MS-Therapeutika können die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden und wirken daher auch nur gegen die peripher initiierten MS-Schübe. "Bisherige HE-Therapien zielen auf die Behandlung der MS-Schübe ab." Es kann jedoch auch schubunabhängig zur Progression kommen. Havla stellte dem Auditorium zur Veranschaulichung dieser Problematik verschiedene gepoolte Studiendaten vor. Unter Natalizumab zeigte sich in einer Kohorte (n = 5562; Follow-up 5,5 Jahre) bei 20% eine Progression: bei 66% der hiervon betroffenen MS-Patienten war die Progression schubabhängig gewesen. Bei einer Behandlung mit Ocrelizumab kam es in der untersuchten Kohorte von 1.656 Patienten (Follow-up 2 Jahre) bei 16% der MS-Patienten zu einer Progression – in 89% Fällen geschah dies auch hier schubabhängig. Havla machte auf ein weiteres Problem im klinischen Alltag aufmerksam, die selektive Erfassung der schubunabhängigen Progression.1

Schubabhängige und schubunabhängige Progression aus immunologischer Sicht

Bei der MS liegt ein peripher initiiertes akutes Entzündungsgeschehen vor. Immunzellen des angeborenen und erworbenen Immunsystems treiben MS-Schübe sowie auch die schubunabhängige Progression an. Eine wichtige Voraussetzung für die Überwindung der Blut-Hirn-Schranke ist die Umwandlung der peripheren B-und T-Zellen in autoreaktive Immunzellen. Innerhalb des zentralen Nervensystems lösen die zuvor aktivierten B- und T-Zellen einen MS-Schub aus. Zusätzlich zu diesen in das ZNS eindringenden autoreaktiven Immunzellen liegt innerhalb des ZNS selbst eine kompartimentalisierte Inflammation vor. Hier spielt die Mikroglia eine wichtige Rolle. Die peripher initiierte sowie auch die zentrale Entzündungsreaktion tragen gemeinsam zur Progression bei MS bei, wobei es sich bei der zentralen um eine chronisch "schwellende" Inflammation handelt. Die letztere begründet die schubunabhängige Progression bei MS.1

Brutontyrosinkinase (BTK) als neues revolutionäres therapeutisches Target bei der MS-Therapie

Havla betonte in seinem Vortrag, dass die aktuell für die MS-Therapie verwendeten Medikamente vorwiegend in der Peripherie Wirkung zeigen und so MS-Schübe verhindern. Eine Wirkung hinter der Blut-Hirn-Schranke bleibt hierbei aus. Die chronisch "schwellende" zentrale Entzündungsreaktion kann daher unter den bisherigen Wirkstoffen weiter voranschreiten und zur schubunabhängigen Progression führen, so Havla. Innovative neue Therapiestrategien bei MS sollen daher auch diesen Wirkbereich beinhalten. Im gleichen Atemzug stellte Havla dem Auditorium die Brutontyrosinkinase als zentrales Signalmolekül in B-Zellen und Mikroglia vor. Die Brutontyrosinkinase ist sowohl für die Aktivierung der peripheren B-Zellen als auch für die Umwandlung der immunregulatorischen Mikroglia in die proinflammatorische Variante zuständig. In der Peripherie beeinflusst die Brutontyrosinkinase u.a. die Migration der B-Zellen in das ZNS sowie die Antigenpräsentation der B- an die T-Zelle. Auch an der B-Zell-Follikelbildung in den Meningen ist die Brutontyrosinkinase beteiligt – die ektopen follikulären Entzündungsherde könnten Haupttreiber der Behinderungsprogression bei MS sein, so Havla. Die Brutontyrosinkinase führt zur Ausschüttung inflammatorischer Zytokine und neurotoxischer Mediatoren. Sie trägt entscheidend zu Prozessen wie der inflammatorischen Polarisation, Demyelinisierung und dem Axonverlust bei MS bei.1

BTK-Inhibitoren steuern spezifisch die Aktivität von B-Zellen und Mikroglia bei MS

Eine wichtige Voraussetzung für die zentrale Wirkung der BTK-Inhibitoren ist ihre Größe. Es handelt sich bei den BTK-Inhibitoren um äußerst kleine Moleküle, die die Blut-Hirn-Schranke überwinden können. So besitzt Evobrutinib als Vertreter der BTK-Inhibitoren (u.a. Tolebrutinib, Fenebrutinib und Remibrutinib) das Potenzial die hinter der Blut-Hirn-Schranke liegenden Subkompartimente des ZNS zu erreichen: Die Liquorkonzentration von Evobrutinib liegt bei 58% der Plasmakonzentration. Aktuell befindet sich Evobrutinib noch in der klinischen Prüfung bei RMS-Patienten. Daten der Phase-II-Studie zufolge führt Evobrutinib zur Reduktion der akuten und auch chronischen Inflammation bei MS. Unter Evobrutinib kam es in der Phase-II-Studie zur Abnahme der Nfl-Level (im Plasma und im Liquor). Dies ist gleichzusetzen mit einer Reduktion des neuroaxonalen Schadens der betroffenen Patienten. In präklinischen Studien konnte im Mausmodell eine Minimierung der meningealen Entzündung unter Evobrutinib gezeigt werden. Die aktivierte Mikroglia könnte Haupttreiber der Behinderungsprogression bei MS sein. In der Phase-IIb-PET-Studie soll diese Hypothese untersucht werden (Darstellung der diffusen Entzündung der weißen Substanz).1

Fazit für die Praxis

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