Die Häufigkeit falsch positiver COPD-Diagnosen ist hoch. Dies könnte viele Patienten, bei denen keine Obstruktion besteht, den möglichen Nebenwirkungen von Medikamenten aussetzen.
Prof. Paul Enright verfasste 1987 zusammen mit Dr. Robert Hyatt das Buch "Office Spirometry", welches Ärzte der Primärversorgung dazu anhielt, eine COPD früh zu diagnostizieren. Darin hieß es damals: "Bei allen Patienten über 40 Jahren, die Zigaretten rauchen, sollte eine Spirometrie durchgeführt werden, [aber] wir befürworten kein Massenscreening."
2008 schrieb Enright für die Zeitschrift Nature ein Editorial, welches Einsatz und Fehler im Gebrauch der Spirometrie in Praxen behandelte.1 Die Botschaft war, dass ein normaler exspiratorischer Spitzenfluss (PEF) eine klinisch relevante COPD ausschließt. Und er empfahl, Raucher mit einem niedrigen PEF‑Wert vor dem Verordnen teurer täglicher Inhalatoren zu einer Spirometrie (mit Prä- und Post-Bronchodilatation, BD) und Befundung zu überweisen, wenn in der Praxis eine gute Qualität selbiger nicht gewährleistet ist.
Ein vor wenigen Monaten ebenfalls in der Nature veröffentlichtes Review des Autors fasst Studien zur Diagnostik einer leichten COPD zusammen, die seit dem Editorial von 2008 erschienen sind.2
Es gab bis dato viele Untersuchungen zur Unterdiagnostik, aber deutlich weniger zur Überdiagnostik der COPD.
Eine große multizentrische Erhebung aus 2019 untersuchte in 20 Ländern Patienten nach, bei denen andere Ärzte eine COPD diagnostiziert hatten. Bei 62% war in der Spirometrie nach BD keine Obstruktion nachweisbar (Tiffeneau-Index über unterem Grenzwert, FEV1/ FVC > LLN).3 Fast die Hälfte dieser Patienten (46%) wendete zum Zeitpunkt der Studie Atemwegstherapeutika an. Die Prävalenz von falsch positiven Diagnosen wies eine starke, ortsabhängige Streuung auf: sie lag bei 1,9% in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen und bei 4,9% in Ländern mit hohem Einkommen.
Falsch positive Diagnosen betrafen häufiger Frauen und waren assoziiert mit höherem Bildungsniveau, aktuellem oder ehemaligem Rauchen und Komorbiditäten wie Asthma oder Herzerkrankungen.
"Die Raten der Überdiagnostizierten sind inakzeptabel hoch, was dazu führt, dass viele Patienten täglich Inhalativa verwenden, die sie nicht benötigen", schreibt auch Enright in dem aktuellen Review.2 Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Medikamente nach der Fehldiagnose für viele Jahre weiter verschrieben werden, sei hoch.
Wie kann das sein? Eine Auswertung von 28 Studien filterte u. a. folgende Hauptgründe für Über- und Fehldiagnosen heraus: Ärzte führten zur Diagnosestellung keine Spirometrie nach BD durch, die Ergebnisse wurden falsch interpretiert oder Komorbiditäten mit ähnlichen Symptomen und abnormaler Spirometrie (wie Asthma oder Herzinsuffizienz) wurden nicht berücksichtigt.4
Eine andere Studie an Rauchern mit Atemwegssymptomen und einer COPD‑Diagnose (aus hausärztlicher Versorgung) unterstreicht dies: bei 85% bestand keine Obstruktion post BD.5 Nur etwas mehr als die Hälfte dieser Diagnostizierten hatte jemals in ihrem Leben eine Spirometrie erhalten (die durchschnittliche Zeit seit der letzten Spirometrie lag bei 47 Monaten).
Enright appellierte bereits in seinem Editorial von 2008: "Die Spirometrie wird von Allgemeinmedizinern absolut unzureichend genutzt, Inhalativa oft wahllos verschrieben. Inhalatoren für COPD sind teuer und bergen das Risiko ernster Nebenwirkungen, weshalb sie aktuellen oder ehemaligen Rauchern nicht ohne Bestätigung einer schweren Atemwegsobstruktion verschrieben werden sollten."1
Alle Leitlinien sind sich einig, dass eine einzelne Spirometrie ohne Obstruktion eine COPD bei diesem Patienten ausschließt.2
Enright sieht die finanziell von der Industrie unterstützten GOLD-Leitlinien kritisch. Er meint, dass diese die leichte und mittlere COPD inadäquat definieren. Die absolute Mehrheit der Raucher mit niedrigem Tiffenau-Index, aber normaler FEV1 werden als leichte COPD klassifiziert (ehemals GOLD Stadium I). Doch Daten der 'COPDGene'-Studie (über 10 Tsd. Raucher, 45–81 Jahre) deuten darauf hin, dass diese Patienten normale pulmonale Phänotypen aufweisen (gemessen an SGRQ-Fragebogen, 6-Minuten-Gehtest, BD-Reversibilität, CT Lunge mit % Emphysem, % Air-trapping und Größe der kleinen Atemwege).6
Mit falsch positiver COPD geht auch die verpasste Gelegenheit einher, andere Ursachen für chronischen Husten (wie Rhinosinusitis, Asthma, GERD, Bronchiektasen) oder für Dyspnoe (Herzinsuffizienz) zu erkennen, für die es sehr wirksame Therapien gäbe.
Wenn Patienten die falsche Diagnose erhalten, können die Beschwerden weiter bestehen – was leider häufig eine Eskalation der Therapie und damit erhöhte Kosten und ein größeres Nebenwirkungspotenzial nach sich zieht.
Lesen Sie kommende Woche mehr, in Teil 2 dieses Beitrags!
Referenzen:
1. Enright, P. The use and abuse of office spirometry. Primary Care Respiratory Journal 17, 238–242 (2008).
2. Enright, P. & Fragoso, C. V. GPs should not try to detect mild COPD. npj Primary Care Respiratory Medicine 30, 1–3 (2020).
3. Sator, L. et al. Overdiagnosis of COPD in Subjects With Unobstructed Spirometry: A BOLD Analysis. CHEST 156, 277–288 (2019).
4. Thomas, E. T., Glasziou, P. & Dobler, C. C. Use of the terms “overdiagnosis” and “misdiagnosis” in the COPD literature: a rapid review. Breathe 15, e8–e19 (2019).
5. Heffler, E. et al. Misdiagnosis of asthma and COPD and underuse of spirometry in primary care unselected patients. Respiratory Medicine 142, 48–52 (2018).
6. Vaz Fragoso, C. A. et al. Phenotype of Normal Spirometry in an Aging Population. Am J Respir Crit Care Med 192, 817–825 (2015).
Abkürzungen:
BD - Bronchodilatation
COPD - Chronische obstruktive Lungenerkrankung (chronic obstructive pulmonary disease)
FEV1 - Einsekundenkapazität
FVC - forcierte Vitalkapazität
LLN - unterer Grenzwert
PEF - exspiratorischer Spitzenfluss