In Schweden sorgt der Staatsepidemiologe für einen nationalen Sonderweg, in Deutschland startet jetzt eine seroepidemiologische Studie im Kreis Heinsberg. Evidenz muss her …
Ist die Corona-Pandemie in Wahrheit ein groß angelegter Aprilscherz? Die Idee, für einen Aussteiger, der nach kommunikationsfreier Einsiedelei in Brandenburgs Wäldern heimkehrt, könnte das so wirken, ist ja irgendwie naheliegend – und der zugehörige Satire-Beitrag auf welt.de eine unterhaltsame Alternative zum Aprilscherz, der heute zwar fällig wäre, aber diesmal ausfällt. "Noch ein Opfer von Corona" titelt der Tagesspiegel.
"Man kann die Realität ignorieren, aber man kann nicht die Konsequenzen der ignorierten Realität ignorieren", ist ein Zitat der 1982 verstorbenen russisch-amerikanischen Bestsellerautorin Ayn Rand, das man dieser Tage des Öfteren hören oder lesen kann. Realität ist in Corona-Zeiten auch die kurze Halbwertszeit so mancher Aussagen und Handlungsempfehlungen. Wenn es denn überhaupt solche gibt. Was fehlt, ist verlässliche Evidenz als dringend benötigter Wegweiser für die Entscheidungen, die jetzt laufend weiter getroffen werden müssen.
In einer vor knapp zwei Wochen veröffentlichten Stellungnahme (COVID-19: Wo ist die Evidenz?) wies das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (EbM) auf die vielen offenen Fragen hin und resümierte: "Es gibt insgesamt noch sehr wenig belastbare Evidenz – weder zu COVID-19 selbst, noch zur Effektivität der derzeit ergriffenen Maßnahmen. Aber es ist nicht auszuschließen, dass die COVID-19 Pandemie eine ernstzunehmende Bedrohung darstellt, und NPIs – trotz weitgehend fehlender Evidenz – das einzige sind, was getan werden kann, wenn man nicht einfach nur zusehen und hoffen will."
Das EbM fordert eine "akribische Begleitforschung", begrüßt die "gerade erfolgten Ausschreibungen des BMBF" und verweist u.a. auf einen Artikel des Stanford-Epidemiologen Prof. John Ioannidis. Der bekannte Experte schreibt: "Die gegenwärtige Coronavirus-Krankheit, Covid-19, ist als Jahrhundert-Pandemie bezeichnet worden. Es könnte sich aber auch um ein Jahrhundert-Evidenzfiasko handeln."
Bei den nicht-pharmakologischen Interventionen (NPI) geht Schweden bekanntlich sehr mutig einen eigenen, weniger restriktiven Weg. Dabei hat offenbar die schwedische Gesundheitsbehörde das Sagen und lässt sich bis jetzt weder von massiver Kritik und Hasskommentaren im Internet noch von kritischen Wissenschaftlern wie dem Molekularbiologen Prof. Sten Linnarsson vom Stockholmer Karolinska-Institut beirren. Als schwedisches Pendant zu Prof. Christian Drosten ist derzeit Prof. Anders Tegnell auf allen Kanälen des Landes präsent. Er ist allerdings kein Virologe, sondern ein Epidemiologe. Seine Antrittsvorlesung zur Aufnahme in die Royal Swedish Academy of War Sciences im Jahr 2005 drehte sich um die Auswirkungen von Pandemien auf die Gesellschaft (wikipedia.org).
In der dpa-Meldung zum schwedischen Alleingang wird Tegnell u. a. mit der Aussage zitiert, dass man im schwedischen Gesundheitswesen sehr auf Vertrauen, Freiwilligkeit und das Finden eigener Lösungen baue. Noch ein deutlicher Unterschied zu Deutschland. Der Soziologe Prof. Fredrik Liljeros von der Universität Stockholm nennt als einen Grund für den nationalen Sonderweg die schon länger bestehende Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Behörden in Schweden bei der Forschung zur Ausbreitung von Viren. "Das sorgt dafür, dass wir glauben, dass die schwedische Strategie stärker auf wissenschaftlichem Boden fußt als anderswo", sagt der Soziologe und vermutet deshalb ein größeres Selbstbewusstsein der schwedischen Virologen im Umgang mit Corona.
Und was ist mit den deutschen Virologen? Also abgesehen von dem – auch von uns sehr geschätzten – Charité-Virologen Drosten und dem Mikrobiologen und RKI-Präsidenten Prof. Lothar Wieler, die als Gesichter der wissenschaftlichen Politikberatung derzeit omnipräsent sind. In der gestrigen ZDF-Sendung "Markus Lanz" (31.03.2020) wies der Bonner Virologe Prof. Hendrik Streeck auf die unterschiedlichen Kernkompetenzen sowie Denk- und Arbeitsweisen der Mitglieder seiner Zunft hin. So denke Drosten vor allem vom Virus, er dagegen vom Patienten aus. Einen "runden Tisch" von Virologen, bei dem die verschiedenen Kompetenzen und Sichtweisen für die Beratung und Entscheidungsfindung genutzt werden könnten, gebe es bisher nicht. Das BMBF habe jetzt allerdings angekündigt, ein Netzwerk ins Leben rufen zu wollen …
Bevor Streeck abends ins ZDF-Studio gefahren ist, hat er tagsüber in einer Pressekonferenz zusammen mit Landrat Stephan Pusch den Start einer seroepidemiologischen Studie im Kreis Heinsberg verkündet. Dieses deutsche Risikogebiet ist laut Pusch "der übrigen Bundesrepublik zwei Wochen voraus" (aerzteblatt.de). Die Studie soll – bereits ab Ende nächster Woche – erste belastbare Daten zur Verbreitung des SARS-CoV-2 Virus liefern. In Zusammenarbeit mit Hygieneexperten widmen sich zudem kleine, assoziierte Studien den Ansteckungswegen in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern und Kindergärten.
Das Vorhaben zielt also genau auf die Evidenz, die dringend benötigt wird, um präzisere Präventionsempfehlungen als bisher aussprechen zu können. Wenn der Zeitplan der Wissenschaftler aufgeht, könnten die zu Ostern anstehenden politischen Entscheidungen über die Fortführung oder Aufhebung bzw. Lockerung der Kontaktsperren dann mit evidenzbasierter Unterfütterung getroffen werden.
Streeck ist übrigens HIV-Spezialist und seit Oktober 2019 Nachfolger von Christian Drosten als Leiter der Virologie am Universitätsklinikum Bonn. Finanziert wird die Heinsberg-Studie von der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Wie schon in der Pressekonferenz zeigte sich Streeck auch bei Markus Lanz verwundert darüber, dass bisher noch niemand (wie das RKI oder Drosten) eine solche Studie initiiert hat. Er fühle sich als Virologe und Arzt dazu verpflichtet.
Abkürzungen:
BMBF = Bundesministeriums für Bildung und Forschung
RKI = Robert Koch-Institut