Man kann nicht alle seltenen (Lungen-) Erkrankungen im Kopf haben? Stimmt. Aber man kann und sollte bei Verdacht in entsprechende Datenbanken schauen.
Bei unserem letzten Beitrag ging es um die Lungenfibrose: einmal um einen spannenden potenziellen Therapieansatz, zum anderen um das aktuelle Leitlinien-Update zur Pharmakotherapie. Die IPF zählt zu den seltenen Erkrankungen (SE), die durch eine Prävalenz unter 5/10.000 definiert sind. Wissen Sie, wie viele seltene Lungenerkrankungen es gibt? Über 100.
Eine Lungenmanifestation findet sich bei ungefähr 5% der über 6.000 seltenen Erkrankungen (das wären dann sogar rund 300 Lungen-SE). Insgesamt sind davon mehrere hunderttausend Menschen in Deutschland und bis zu 3 Millionen in Europa betroffen. In der Summe kommen seltene Lungenerkrankungen also gar nicht so selten vor. Die Zahlen haben wir aus einem aktuellen Editorial1 von Prof. Andreas Günther vom Zentrum für Interstitielle und Seltene Lungenerkrankungen am Universitätsklinikum Gießen.
"Denken Sie an die 'Seltenen' in der täglichen Routine!", ermuntert Günther die pneumologischen Kollegen. Er weist in seinem Beitrag auf die gegenüber den Volkskrankheiten erheblichen Versorgungsnachteile im SE-Bereich hin: eingeschränktes ärztliches Wissen zum klinischen Erscheinungsbild sowie limitierte Forschungsaktivitäten zur Aufklärung von SE und für die Entwicklung therapeutischer Optionen. Immerhin scheinen sich die Rahmenbedingungen der Patientenversorgung nach Günthers Ansicht "langsam zu verbessern".
Was kann man als Lungenärztin bzw. -arzt selbst dazu beitragen? Regelmäßige Fortbildungen wären angebracht, wobei auch nicht-pneumologische Leitsymptome als Schlüssel zum Erkennen der Erkrankung zu berücksichtigen sind. Dazu hat Günter eine kleine Testfrage parat: Wofür ist das pneumologische Bild einer UIP/IPF, gepaart mit einer Plättchendegranulationsstörung und/oder einem okkulo-kutanen Albinismus ein extrem starkes Indiz?
Antwort: für das Vorliegen eines Hermansky-Pudlack-Syndroms, einer generalisierten lysosomalen Transportstörung.
Für Diagnostik und Therapie ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit angesagt. Aber man muss halt erstmal überhaupt einen entsprechenden Verdacht hegen. Da bietet sich bei klinisch ungewohnten oder auffälligen Phänotypen ein Abgleich mit bestehenden Datenbanken an. Günther empfiehlt beispielhaft "The Phenomizer" von Orphanet. Das Instrument ist allerdings englischsprachig und wirkt, zumindest auf den ersten Blick, etwas gewöhnungsbedürftig.
Schneller und einfacher findet man sich im esanum-Register "Seltene Krankheiten" zurecht. Wie die esanum-Redaktion berichtet, hat esanum damit den Health-i Award 2017 in der Kategorie "Unternehmen" gewonnen. Wir gratulieren!
Damit kommen wir nochmal auf die Bronchiektasen zurück, von denen hier im Blog erst kürzlich die Rede war (Neue Bronchiektase-Leitlinie: Können Sie diese 9 Fragen beantworten?). Es handelt sich um keine seltene, sondern eher um eine "vielfach unterschätzte" Erkrankung. Das legt ein Artikel2 im Deutschen Ärzteblatt nahe, der im vergangenen Jahr erschien. Anhand von Diagnose-Daten wurde eine Prävalenz von 67 pro 100.000 Versicherten ermittelt, von denen 92% ambulant behandelt werden2.
Angesichts deutlich höherer Zahlen, die aus Großbritannien gemeldet werden, vermuten die Autoren allerdings eine Unterdiagnostizierung hierzulande, die weniger mit einem Nicht-Erkennen als vielmehr mit einem (befürchteten) Nicht-Erstatten zu tun haben dürfte. Jedenfalls gibt es für Patienten mit Non-CF-Bronchiektasen keine zugelassene Pharmakotherapie und damit ein Dilemma: Eine Verordnung ist zwar nach Ansicht der Autoren "fast immer möglich, erfordert aber eine aufwendige medizinische Begründung und Dokumentation". Angesichts des wirtschaftlichen und forensischen Risikos von Off-label-Verordnungen ist es nicht verwunderlich, wenn bei Anzeichen einer chronischen Atemwegsobstruktion Bronchiektase-Patienten vorzugsweise eine COPD-Diagnose erhalten.
Bronchiektasen sind also nicht selten, die Komorbidität mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) aber schon. Nie gehört, dass es eine solche überhaupt gibt? Dann geht es Ihnen laut einem Kongressbericht3 zum ERS 2017 wie manch anderem Kollegen. So wird jedenfalls Prof. Philippe Camus zitiert. Der persönliche Erfahrungsschatz des Pneumologen und Intensivmediziners am Universitätsklinikum Dijon speist sich aus der Behandlung von knapp drei Dutzend Patienten.
Laut US-amerikanischen Registerdaten findet sich eine CED bei knapp 3% der Patienten mit Bronchiektasen. Asthma (43%) und COPD (36%) kommen bei den Register-Teilnehmern als Koinzidenz natürlich wesentlich häufiger vor, aber immerhin. Bei der CED handelt es sich Camus zufolge viel häufiger um eine Colitis ulcerosa als um einen Morbus Crohn. Die Symptomatik entwickelt sich in den meisten Fällen zuerst im Darm und danach in der Lunge, was auch nach einer Kolektomie möglich ist. Scheinbar wird die intestinale Entzündung auf die Atemwege übertragen. Kortikosteroide wirken sowohl bei CED als auch – ausnahmsweise – bei dieser Form von Bronchiektasen.
In der Regel bildet sich mit der pulmonalen Symptomatik auch eine laryngeale, potenziell lebensbedrohliche Atemwegsobstruktion aus, die eine möglichst frühzeitige Intervention erfordert, so Camus. Eine unbehandelte chronische Bronchitis kann offenbar bei CED-Patienten innerhalb weniger Jahre in eine aggressive Bronchiektasie münden.
Differenzialdiagnostisch kommen andere Erkrankungen mit Thorax-Symptomatik in Frage, wie z.B. Sarkoidose, Amyloidose, Polychondritis, mykotische oder bakterielle Infektionen, tracheale Neoplasien, infiltrative Pneumopathien oder nekrobiotische Lungenknoten.
Therapeutisch empfiehlt Camus im ersten Schritt inhalative, dann ggf. vernebelte oder orale Kortikosteroide, worauf etwa zwei von drei Patienten ansprechen. Bei mangelndem Erfolg ist die bronchiale Lavage zum Nachweis etwaiger Krankheitserreger angezeigt. Eine Kolektomie aufgrund pulmonaler Beschwerden ist bei CED-Patienten dagegen nicht ratsam.
Referenzen:
1. Günther A. Seltene Lungenerkrankungen – eine Herausforderung für Ärzte, Patienten und Politik. Karger Kompass Pneumol 2017;5:66-69.
2. Ringshausen FC et al. Bronchiektasen: Vielfach unterschätzt. Dtsch Arztebl 2016; 113(8): [4]; doi: 10.3238/PersPneumo.2016.02.26.01.
3. Fath R. Bronchiektasen bei chronisch entzündlicher Darmerkrankung: Seltene Komorbidität erfordert rasches Handeln. Pneumo News 2017;9:41-2.
Abkürzungen:
ERS = European Respiratory Society (bzw. deren Jahreskongress)
IFP = idiopathische pulmonale Fibrose
UIP = gewöhnliche interstitielle Pneumonie