Die menschliche Stimme als Biomarker für die Lungenfunktion

Bei der Erzeugung von Sprache sind unsere oberen Atemwege, die Lungen und das Zwerchfell beteiligt. Ein Team von Ärzten und Entwicklern hat daraus ein analytisches Screeningtool konzipiert.

Bei der Erzeugung von Sprache sind unsere oberen Atemwege, die Lungen und das Zwerchfell beteiligt. Ein Team von Ärzten und Entwicklern hat daraus ein analytisches Screeningtool konzipiert.

Lungenfunktionstests und insbesondere die Spirometrie gelten als der Goldstandard und das wichtigste Instrument für die Diagnostik und das Management vieler verschiedener Atemwegserkrankungen. Doch sie sind arbeitsintensiv, erfordern spezialisierte Ausstattung, geschultes Personal, sind nicht überall verfügbar (insbesondere in strukturschwachen Regionen) und sind zu einem großen Teil Patienten mit Lungenerkrankungen als jährliche Untersuchung vorbehalten.

Viele Menschen wissen nicht, dass sie eine COPD haben, weil sie keinen Zugang zu einer Spirometrie haben, sagt Dr. Obaid Ashraf, Pulmologe am Allegheny General Hospital in Pennsylvania, der hierin globale Implikationen sieht, denn COPD ist die dritthäufigste Todesursache in der Welt und eine weitere Zunahme wird prognostiziert.1 Allein in den USA leben 16,4 Mio. Menschen mit der Diagnose, aber Millionen weitere haben die Krankheit möglicherweise, ohne es zu wissen. COPD führt zu schweren langfristigen Behinderungen und frühem Tod.2

Sprachbasiertes Screening auf chronische Atemwegserkrankungen

Dr. Ashraf hat in Zusammenarbeit mit weiteren Ärzten und Entwicklern eine Screeninganwendung entwickelt, welche die elementaren, allgegenwärtigen Aktivitäten des Atmens und Sprechens zur Schätzung der Lungenfunktion heranzieht. Zeigt sich hier eine Abnormalität, sollte sich eine genauere Abklärung anschließen.3

Benötigt wird dafür nur das Mikrofon eines Tablets oder Smartphones, die Auswertung erfolgt automatisiert und unmittelbar. Nach einer kurzen Kalibrierung (um Hintergrundrauschen auszugleichen) und der Abfrage von Alter, Größe, Gewicht, Vorerkrankungen und derzeit bestehenden Atemwegs- oder Infektsymptomen erwarten den Patienten Aufgaben.
Die erste ist, so lange wie möglich "Aaaa" zu sagen, ein Test für die Phonation und den vom respiratorischen System erzeugten Luftstrom. Die Länge der Zeit, die jemand den Ton halten kann, ohne Luft zu holen, korreliert nachweislich stark mit der Lungenkapazität. Als nächstes wird der Patient aufgefordert, sich bei einer forcierten Ausatmung aufzunehmen ("die Kerzen ausblasen"), was an das FEV1-Maneuver aus der Spirometrie erinnert. Anschließend sollen die Patienten einen kurzen, phonetisch ausgewogenen Text vorlesen. "Hierdurch können wir uns ein Bild von ihrer Atmung, ihrer Phonation, Artikulation und Resonanz machen", erklärt Ashraf. Zuletzt ist eine Liste von Wörtern mit langen Vokalen (wie "cheese" oder "baby") zu rezitieren. Diese setzen beim Sprechen viel Luft frei, weil Mund- und Rachenraum offen bleiben. Je mehr Vokale nacheinander gesprochen werden, desto schneller wird die Luft aus der Lunge entleert, was hilft, Kurzatmigkeit zu messen.3
Die Anwendung merkt sich auch frühere Datensätze und setzt Veränderungen zu diesen ins Verhältnis.

Erste Studiendaten vielversprechend für die Detektion einer Obstruktion

Anlässlich des virtuellen Kongresses des American College of Chest Physicians im Oktober 2020 präsentierte Dr. Ashraf vorläufige Studienergebnisse zu diesem Untersuchungstool, welches er zunächst an 133 Erwachsenen zwischen 18 und 85 Jahren, die zeitgleich zur Lungenfunktionsdiagnostik in seiner Klinik einbestellt waren, validierte.
Aus den Daten, die seine Screeninganwendung vor und nach Spirometrie generierte, sprach eine gute Vorhersagegenauigkeit für FVC und FEV1 und für die Klassifizierung von obstruktiver vs. nicht-obstruktiver Lungenerkrankung.4 

Von den untersuchten Patienten hatten etwa 30% in der Spirometrie eine Obstruktion und 70% eine normale Lungenfunktion. Die im Herbst vorgestellten Daten der weiterhin laufenden Studie ergaben eine Genauigkeit von 78% bei der Erkennung einer Atemwegsobstruktion im Vergleich zur Spirometrie, diese Zahl ist laut Ashraf in einer aktualisierten Auswertung auf 82,6% gestiegen. Darüber hinaus stieg die Genauigkeit bei der Vorhersage der FEV1 auf 85,1% und bei der FVC auf 82,2% laut den aktuellsten Daten.3
Diese Technologie erfordert keine zusätzliche, speziell angefertigte Hardware, ist kostengünstig, nicht invasiv und praktisch für den allgegenwärtigen und häufigen Einsatz zur Echtzeitüberwachung von Atemwegserkrankungen, schreiben Ashraf und Kollegen.

Zukünftige Wege

Ashraf hofft, Stimm- und Atemdaten von 250 bis 300 Patienten zu sammeln, um den Algorithmus zu verfeinern. Darüber hinaus läuft seit 2020 eine Längsschnittstudie, um festzustellen, ob das Tool Exazerbationen bei COPD-Patienten vorhersagen kann, die über 6 bis 12 Monate 2 bis 3 Mal wöchentlich Atem- und Sprachproben aufnehmen. Wenn sich Anzeichen einer Verschlechterung der COPD auf diese Weise frühzeitig erkennen ließen, könnte der Patient untersucht und behandelt werden, bevor sich sein Zustand verschlechtert.

So ähnlich hatte die Idee für das Untersuchungstool übrigens vor etlicher Zeit begonnen: Während eines Telefonats bemerkte Ashraf etwas Auffälliges in der Stimme einer Patientin, obwohl sie Husten, Keuchen oder Kurzatmigkeit verneinte. Da er wusste, dass sie an einer COPD litt, gab er ihr am gleichen Tag einen Termin zur Untersuchung in der Klinik. Die Diagnose: frühe Anzeichen einer COPD-Exazerbation. Sie wurde ambulant behandelt und erholte sich ohne Hospitalisation.

Prof. George O'Connor, Pulmologe an der Boston University School of Medicine und Mitherausgeber des JAMA (Journal of the American Medical Association), kann sich den Nutzen der Anwendung wie folgt vorstellen: "...sie kann in der Tat eine nützliche 'künstliche Intelligenz' als Ergänzung zu Telefongesprächen mit Patienten bieten, um Patienten zu erkennen, die in Schwierigkeiten sind. Aber es ist noch ein langer Weg, bis wir beurteilen können, ob ein regelmäßiges Monitoring zu Hause mit dieser neuen Stimmanalyse die klinischen Outcomes verbessern könnte."3

Hier können Sie die Anwendung (Beta-Version, noch im Aufbau) und sich selbst testen.

Referenzen:
1. Terzikhan, N. et al. Prevalence and incidence of COPD in smokers and non-smokers: the Rotterdam Study. Eur J Epidemiol 31, 785–792 (2016).
2. Learn About COPD. /lung-health-diseases/lung-disease-lookup/copd/learn-about-copd.
3. Walter, K. When the Human Voice Speaks Volumes About Lung Function. JAMA (2021) doi:10.1001/jama.2020.22460.
4. Ashraf, O. et al. VOICE-BASED SCREENING AND MONITORING OF CHRONIC RESPIRATORY CONDITIONS. CHEST 158, DOI:https://doi.org/10.1016/j.chest.2020.08.1509 (2020).