Placebo in der Praxis: eine therapeutische Option?

Am Anfang steht das Wort. Das wird in einer somatisch orientierten Medizin vielfach eher gering geschätzt und vergütet. Hier steht eine dringend nötige Reformation noch aus.

Am Anfang steht das Wort. Das wird in einer somatisch orientierten Medizin vielfach eher gering geschätzt und vergütet. Hier steht eine dringend nötige Reformation noch aus.

500 Jahre Reformation – daran kommt in dieser Woche wohl kaum jemand vorbei, allein schon wegen des Feiertags. Auch in diesem Blog geht es heute um ein Glaubensthema, wenn auch um ein medizinisches. Glauben Sie an den Placebo-Effekt? Keine Glaubensfrage, sondern Fakt? Stimmt, natürlich gibt es ihn. Aber ist dieser Effekt mehr als eine – mitunter hinderliche – Vergleichsgröße in wissenschaftlichen, placebokontrollierten Studien? Ist er vielleicht sogar eine echte therapeutische Option? Muss man den Patienten dafür täuschen? Oder wirkt ein Scheinmedikament auch, wenn die Patienten vorher wissen, dass es sich um ein solches handelt?

Placebo-Effekt ist nicht vom Fehlglauben abhängig

Dass die letzte Frage mit "ja" beantwortet werden kann, ist bereits aus einigen neueren Studien der Placebo-Forschung klar geworden. Aber wie steht es um den Zusammenhang mit der ärztlichen Aufklärung? Adressiert hat diesen Aspekt eine interessante Arbeit, die kürzlich im Fachjournal Pain (vorab online) erschien.

In der experimentellen Studie machten 160 gesunde Probanden zweimal einen Hitzetest mit. Dabei wurde ihnen über eine am Unterarm platzierte, immer heißer werdende Sonde ein Schmerzreiz zugefügt. Diesen sollten die Teilnehmer bei Unerträglichkeit selbst stoppen und seine Stärke auf einer Skala von 0 bis 100 bewerten.

Vor dem zweiten Durchlauf wurden die Probanden in vier Gruppen eingeteilt. Drei Gruppen erhielten als Placebo eine wirkstofffreie Creme, die vierte Gruppe bekam gar nichts. Die Teilnehmer einer der drei Placebo-Gruppen wurden getäuscht: Sie erhielten die Auskunft, es handele sich um ein Schmerzpräparat mit dem Wirkstoff Lidocain. In einer weiteren Gruppe trug die Creme die Aufschrift "Placebo". In der dritten Placebo-Gruppe war das Scheinmedikament ebenfalls als solches gekennzeichnet, zusätzlich wurden die Probanden aber noch eine Viertelstunde lang über den Placebo-Effekt und seine Wirkmechanismen aufgeklärt.

Ob offen oder verdeckt: die ärztliche Aufklärung fördert die Placebo-Wirkung

Bei der anschließenden Wiederholung des Hitzetests gab es keine objektiv messbaren Veränderungen – die Studienteilnehmer brachen die Erhitzung etwa zeitgleich wie beim ersten Durchgang ab. Beim subjektiven Schmerzempfinden zeigte sich allerdings ein signifikanter Unterschied: In der Kontrollgruppe ohne Intervention wurde die Schmerzintensität mit durchschnittlich 64 Punkten bewertet. Ähnlich sah es in der Gruppe mit offenem Placebo ohne begleitende Erläuterungen aus. Dagegen stuften die Teilnehmer, denen zur Creme auch eine wissenschaftliche Begründung ("Rationale") mitgeliefert wurde, die Schmerzstärke im Durchschnitt um 4 Punkte niedriger ein. Unabhängig davon, ob ihnen das Placebo klassisch verdeckt oder offen ausgehändigt worden war.

Die Studienautoren von der Fakultät für Psychologie der Universität Basel und von der Harvard Medical School sind der Meinung, dass ihre Ergebnisse den breiteren Einsatz von Placebos in der ärztlichen Praxis rechtfertigen könnten. Die Erstautorin kommentiert in einer Mitteilung der Baseler Uni: "Die bisherige Annahme, dass Placebos nur wirken, wenn sie mittels Täuschung verabreicht werden, sollte neu überdacht werden." Der Gruppenleiter wird ergänzend zitiert: "Eine offene Abgabe eines Scheinmedikaments bietet neue Möglichkeiten, den Placebo-Effekt auf ethisch vertretbare Weise zu nutzen."

Asthma: objektive Messung und subjektive Wahrnehmung divergieren

Übrigens hat eine Placebo-Studie2 mit Asthma-Patienten schon vor einigen Jahren "eine Teilung des Placebo-Effekts zwischen subjektiver und objektiver Wirkung" beschrieben. Die Autoren, ebenfalls von der Harvard Medical School in Boston, interpretierten ihre Ergebnisse als mögliche Abbildung des sozialwissenschaftlich postulierten Unterschieds "zwischen der Behandlung von Krankheiten (objektive Physiologie) und der Behandlung von Leiden (subjektive Wahrnehmung)".

39 Patienten mit leichtem Asthma beendeten die doppelblinde Crossover-Studie. Sie wurden in einem Block-Design auf jede der vier folgenden Interventionen dreimal randomisiert: Inhalator mit Albuterol, Inhalator mit Placebo, Schein-Akupunktur und keine Behandlung. In jeder der insgesamt 12 Sitzungen wurden anschließend die Einsekundenkapazität (FEV1) gemessen und die subjektive Einschätzung der Patienten erfasst.

Die objektiv messbare Besserung des FEV1-Werts fiel eindeutig aus:

Bei der Selbstauskunft zur Besserung des Befindens sah es dagegen folgendermaßen aus:

Die im New England Journal of Medicine publizierte Arbeit und erst recht ein begleitender Kommentar3 von Prof. Daniel Moerman (University of Michigan-Dearborn) haben damals in Fachkreisen – vor allem in US-amerikanischen Medizin-Blogs – für heftige Diskussionen gesorgt. Moerman warf die spannende Frage auf: "Welches Ergebnis ist das wichtigere in der Medizin: die objektive oder die subjektive Wahrnehmung, die des Arztes oder die des Patienten?"

Welches Ergebnis ist wichtiger?

Im Notfallmedizin-Blog Rogue Medic gibt es dazu eine spannende Leserdiskussion. Gleich der erste Kommentator sieht es naheliegenderweise als ärztliche Aufgabe, für eine objektive UND subjektive Linderung zu sorgen. Er weist auch auf die Häufigkeit psychiatrischer Komorbiditäten bei (Dyspnoe-) Patienten hin und hält es ethisch und medizinisch für angebracht, sowohl die Bronchokonstriktion als auch die Angst(störung) zu behandeln. Wir werden auf diese Thematik im nächsten Beitrag zurückkommen.

Hier noch kurz zwei weitere Hinweise:

BÄK-Stellungnahme "Placebo in der Medizin" – bekannt?

Erstens: Es gibt eine Stellungnahme der Bundesärztekammer zum Thema "Placebo in der Medizin" aus dem Jahr 2010, die im Deutschen Ärzteblatt publiziert wurde. Falls sie Sie interessiert und sie Ihnen entgangen sein sollte, können Sie sich das Dokument hier herunterladen. Laut Co-Autor Prof. Robert Jütte wird darin "eine Reihe von Beispielen genannt, was man in der Praxis konkret verändern kann, um den Placeboeffekt zu nutzen". Jütte äußerte sich begleitend in einem lesenswerten Interview zur Zielsetzung der Stellungnahme und zur zentralen Rolle der Arzt-Patienten-Interaktion: "Mit seinem Verhalten kann der Arzt ungemein viel erreichen – mit Empathie, Vertrauen und dem therapeutischen Setting. All das muss stimmen, damit der Arzt mit seiner Maßnahme – auch wenn sie noch so evidenzbasiert sein mag – Erfolg haben kann. Darauf zielt diese Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats im Wesentlichen ab. In der alltäglichen Praxis sollte die Reflexion über die Bedeutung der Arzt-Patienten-Interaktion für den Placeboeffekt im Vordergrund stehen."

Nocebo: Mit dem Preis steigen die (gefühlten) Nebenwirkungen

Zweitens: Außer dem Placebo-Effekt gibt es leider auch den Nocebo-Effekt. Die Erwartungshaltung beeinflusst über das modulierende Schmerzsystem die Verarbeitung von Schmerzreizen. Und wenn die Patienten von einem teuren (Schein-) Medikament ausgehen, fallen die vermeintlichen Nebenwirkungen offenbar noch höher aus, wie dieser esanum Beitrag berichtet.

Referenzen:

  1. Locher C et al. Is the rationale more important than deception? A randomized controlled trial of open-label placebo analgesia. Pain 2017. doi: 10.1097/j.pain.0000000000001012.
  2. Wechsler ME et al. Active Albuterol or Placebo, Sham Acupuncture, or No Intervention in Asthma. N Engl J Med 2011;365:119-26.
  3. Moerman DE. Meaningful Placebos — Controlling the Uncontrollable. N Engl J Med 2011;365:171-2.