Weitere Zahlen und O-Töne zum "Physician Burnout & Suicide Report 2021"
In Teil I von vergangener Woche hatten wir anhand einer Medscape-Umfrage unter 12,3 Tsd. amerikanischen Kollegen (durchgeführt im Herbst 2020) gesehen, dass in Übereinstimmung mit den Trends der vergangenen Jahre im Schnitt etwa jeder zweite Arzt von Burnout betroffen ist.1,2
Auch wenn manifeste Beschwerden in 79% der Fälle vor der Coronakrise begannen, gaben viele Befragte an, dass mit der Coronakrise in Zusammenhang stehende Stressoren, Risiken, social distancing und Unsicherheit bezüglich der Zukunft dazu beigetragen haben, dass sie weniger glücklich sind.
Burnout geht häufig mit Depressionen Hand in Hand. Je älter die Befragten, desto höher war der Anteil derjenigen, die noch nie mit irgendwem (Freunde, Familienmitglieder oder Therapeuten) darüber gesprochen hatten (bis zu 41%).
Als Begründung, warum sie insbesondere keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, wurden häufig genannt: "ich komme ohne professionelle Unterstützung damit klar" (46%), "keine Zeit" (40%) oder "die Symptome sind nicht schwer genug" (52%).
Auch Sorgen vor beruflichen Konsequenzen oder davor, dass Kollegen oder Ärztekammer davon erfahren könnten, hielten Ärzte davon ab, sich Hilfe zu holen und schüren das Klima von Burnout und Depression weiter an.
Dabei ist der Leidensdruck hoch:
"Ich nehme immer weiter Gewicht zu, bin ärgerlich und schlafe nicht." (Notarzt)
"Ich kann die Dinge, die mir zum Stressabbau Freude machen, nicht tun, wie Reisen. Meine Haare fallen aus, weil ich nicht vom Stress abschalten kann." (Gynäkologe)
"Ich bin jetzt auf Antidepressiva eingestellt. Meine Depressionen und Ängste wirken sich negativ auf meine Arbeit und privaten Beziehungen aus." (Neurologe)
Mehr als die Hälfte der an Depressionen Leidenden gab an, dass ihnen bewusst ist, dass sich dies auf die Interaktionen mit den Patienten auswirkt: "ich bin schnell entnervt von Patienten" (36%), "weniger motiviert, sorgfältige Notizen zu machen" (24%), "ich mache Fehler, die ich normalerweise nicht machen würde" (15%).2
"Ich fühle oft Verzweiflung, ich habe schwere Ängste und PTSD, ich habe massive Selbstzweifel, und ich habe das starke Gefühl für das eigene Selbst und den Wertebezug verloren, die ich einst hatte." (Gynäkologe)
"Ich bin müde und demotiviert. Es belastet meine Ehe. Es fällt mir schwer, früh aus dem Bett zu kommen. Ich zähle die Tage bis zum Freitag." (Psychiater)
Eine beängstigende und traurige Zahl: 13% berichteten Suizidgedanken und 1% hatten bereits einen Selbstmordversuch hinter sich, ein Teil wollte die Frage nicht beantworten. Wir wissen aus anderen Statistiken, dass Menschen, die bereits einen Versuch unternommen haben, ein hohes Risiko aufweisen, sich tatsächlich irgendwann das Leben zu nehmen.
Auf die Frage, wie sich die Situation entschärfen ließe, kamen im Wesentlichen die gleichen Wünsche wie in zahlreichen Erhebungen der Vorjahre:
"Bessere Bezahlung, um finanziellen Stress zu vermeiden" (45%), "machbarere Arbeitszeiten" (42%), "mehr Respekt von Vorgesetzten und Mitarbeitern" (39%), "mehr Autonomie" (35%), "mehr (Unterstützungs-) Personal" (32%), "zumutbarere Patientenzahlen" (30%) und "weniger behördliche Vorschriften" (27%). Mit 5% wurde genannt "keine Covid-Patienten behandeln müssen".
"Die Einmischung von Versicherungsunternehmen in Therapien muss aufhören", sagt ein Neurologe, "wie z. B. übermäßige Vorabgenehmigungsprozesse oder Ablehnung von Standardverfahren."
"Unsere Ausbildungssysteme und die überwachenden Fachgremien haben vor dem Konsumdenken und der politischen Korrektheit kapituliert. Die meisten von ihnen werden von Berufsakademikern geleitet, die nie in der Medizin praktiziert haben, und sie sind erschreckend realitätsfern", schreibt ein Arzt in den Leserkommentaren zu den Umfrage-Ergebnissen.2
Die meisten überlasteten Ärzte scheinen wenig Hoffnung zu haben, dass sie mit ihren Anregungen und Bedürfnissen am Arbeitsplatz gehört werden bzw. dass sie an den Prozessen etwas ändern könnten. Dies spiegelte sich auch in den Antworten auf die Frage wider "Was haben Sie gegen Ihr Burnout unternommen?". Ein Fünftel (21%) wechselte die Arbeitsumgebung, 28% reduzierten die Arbeitszeit, aber nur 17% hatten mit der Klinikleitung über Produktivitätsdruck das Gespräch gesucht. Mehr als jeder Dritte (35%) wählte keine der diversen angebotenen Antworten, wobei einige Optionen allerdings auch nicht vielen zur Verfügung gestanden haben dürften (Praxis verkauft 3%, mehr Klinikpersonal eingestellt 7%).
Der britische Arzt und Präsident des Royal College of Physicians, Professor Andrew Goddard, fasste die Lage bereits 2019 wie folgt zusammen: "Seit ich 2002 Facharzt wurde, ist die Zahl der Notaufnahmen um mehr als 50% gestiegen, bei einer Reduzierung der Bettenzahl um über 25%. Der einzige Grund, warum das Kartenhaus des britischen Gesundheitssystems (NHS) nicht zusammengebrochen ist, ist, dass wir als Gesundheitsdienstleister immer härter gearbeitet haben, um die Liegezeiten zu senken [...] Wir verlieren wahrscheinlich 25% aller Ärzte zwischen dem Beginn des Medizinstudiums und der Facharztreife, ganz zu schweigen von der großen Zahl, die aufgrund des Arbeitsdrucks [...] vorzeitig in Rente geht."3
Wie wir in Teil I schon erwähnt hatten, spricht er sich dafür aus, im Kontext dauerüberlasteter Ärzte nicht länger von Burnout, sondern von 'moral injury' zu sprechen. Er sagt, wir müssen deutlich machen, dass das Gesundheitspersonal durch das überlastete System "kaputtgeht".
"Was wir 'Burnout' nennen, dieses Gefühl der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit und des Verlusts der Freude, ist nicht auf ein Versagen des Einzelnen zurückzuführen. Es ist ein Versagen der Umgebung, in der sie arbeiten, der Unternehmenskultur, der Arbeitsbelastung, die ihnen auferlegt wird."3
Referenzen:
1. West, C. P., Dyrbye, L. N. & Shanafelt, T. D. Physician burnout: contributors, consequences and solutions. J Intern Med 283, 516–529 (2018).
2. ‘Death by 1000 Cuts’: Medscape National Physician Burnout & Suicide Report 2021. Medscape https://www.medscape.com/slideshow/2021-lifestyle-burnout-6013456.
3. Medicine 2019: Stop using the word burnout says RCP president. RCP London https://www.rcplondon.ac.uk/news/medicine-2019-stop-using-word-burnout-says-rcp-president (2019).