Die gute Nachricht: Schon die Abnahme weniger Kilos ist gesundheitsförderlich
Ernüchterung, wohin man schaut. Mal ganz abgesehen von der in- und ausländischen Politik: Die Fastenzeit ist immer noch nicht zu Ende, dafür liegt draußen zum Frühlingsbeginn Schnee. Und dann verderben uns auch noch die medizinischen Nachrichten die Laune: der dicke Bauch ist doch ein Problem und auf den Wein als Heilmittel kein Verlass.
Nicht nur unter den Patienten, auch unter uns Ärzten gibt es manche, die die eigene Fettschicht gerne als evidenzbasierte Schutzschicht betrachten. War die Evidenz freilich schon immer etwas wackelig, wurde soeben ihr Einsturz verkündet: Forscher widerlegen Adipositas-Paradoxon, ist im esanum-Newsfeed zu lesen. Oh weh!
Und es kommt noch schlimmer: "Schon geringes Übergewicht erhöht einer großen Studie zufolge das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen", heißt es da. Das geringste kardiovaskuläre Risiko wird bei einem Body-Mass-Index (BMI) zwischen 22 und 23 und einem Taillenumfang von 74 cm (Frauen) bzw. 83 cm (Männer) festgemacht. Positiv formuliert: Schon die Abnahme weniger Kilos fördert die Gesundheit. Das ist zugegebenermaßen eine Botschaft, an die man sich und die Patienten tatsächlich immer wieder erinnern sollte.
Die Erstautorin der Studie1, um die es geht, heißt übrigens Dr. Stamatina Iliodromiti. Die Arbeit kommt also aus …?
Richtig: Schottland. Das Team von der Universität in Glasgow hat seine Ergebnisse im European Heart Journal veröffentlicht. In die Studie wurden fast 300.000 weiße Menschen europäischer Abstammung und mittleren Alters (40-69 Jahre) ohne kardiovaskuläre Vorerkrankung eingeschlossen.
Neu ist die Nachricht eigentlich nicht, schon vor zwei Jahren hat eine im Lancet publizierte Meta-Analyse2 mit der Mär von der gesunden Adipositas aufgeräumt.
Kurz rekapituliert: Es war ebenfalls eine Meta-Analyse3, die folgenden – anschließend als Adipositas-Paradoxon bezeichneten – Zusammenhang ermittelte: Bei Menschen mit Übergewicht (BMI 25 bis unter 30) fand sich ein um 6% niedrigeres Gesamtsterblichkeits-Risiko als bei Normalgewichtigen (BMI 18,5 bis unter 25). Das vierköpfige Autorenteam um Katherine Flegal stammt vom US-amerikanischen National Center for Health Statistics der Centers for Disease Control and Prevention und lanzierte sein Paper 2013 ins JAMA.
Für die widersprechende Lancet-Arbeit von 2016 hat die Global BMI Mortality Collaboration, ein Team von 500 Forschern aus 300 Instituten, in der bisher umfassendsten Untersuchung die Ergebnisse aus 239 Studien mit 10,6 Millionen Teilnehmern analysiert. Dabei wurden Raucher ebenso ausgeschlossen wie Todesfälle in den ersten fünf Jahren nach der Gewichtserhebung und, sofern bekannt, Patienten mit chronischer Erkrankung.
Damit konnten Verzerrungen vermieden werden, die auf das Konto bekannter Phänomene gehen: wie etwa der niedrige BMI bei den früher sterbenden Rauchern und bei chronisch Kranken mit katabolem Stoffwechsel und ggf. Auszehrung (u.a. Tumorkachexie). Die Autoren postulierten, dass ihre Untersuchung andernfalls zum gleichen Ergebnis wie Flegal et al gekommen wäre. Also alles nur ein statistisches Versehen?
Ein Thema, bei dem auch die niedergelassenen Kollegen gerne mitdiskutieren. Ist es ein Problem der berühmt-berüchtigten J-Kurve, die im unteren Bereich nicht dem entspricht, was man eigentlich erwarten würde, was wiederum an zig verschiedenen Gründen liegen kann?
Wie tauglich ist der ubiquitär als Basiswert wissenschaftlicher Studien herangezogene BMI wirklich? Er macht (die relativ kleine Zahl an) Menschen mit hohem Muskelanteil zu Übergewichtigen und Ältere mit Sarkopenie und erhöhtem Körperfettanteil zu scheinbar Normalgewichtigen. Mit dem Bauchumfang sieht es da nicht unbedingt viel besser aus. Ist der prozentuale Muskelanteil nicht der bessere Prädiktor für Lebensqualität und Lebenserwartung?
Der BMI als solcher ist jedenfalls ein reiner Surrogat-Parameter und keine Krankheitsentität. Dynamische Krankheitsprozesse lassen sich mit ihm nicht differenziert abbilden. Eine im vergangenen Dezember publizierte bevölkerungsbezogene Studie4 aus den USA hat sich mit der Methodik der Datenauswertung beschäftigt. Die Analyse bestätigte das Adipositas-Paradoxon bei prävalenter kardiovaskulärer Erkrankung (CVD), fand aber keinen übergewichtsbezogenen Überlebensvorteil bei inzidenter CVD.
Bei den prävalenten Krankheitsmodellen wurde auf den gegenwärtigen Gewichtsstatus zurückgegriffen, bei den inzidenten Krankheitsmodellen dagegen auf denjenigen vor Diagnosestellung. Die Autoren sehen keinen Grund, die Leitlinien für die klinische Praxis oder die öffentliche Gesundheit (Public Health) zu reevaluieren, um ein potenzielles Adipositas-Paradoxon weiter zu verfolgen.
Es bleibt bei dem, was die gesunde Intuition ohnehin spürt: Gesund und dick ist ungesünder als gesund und schlank, aber immer noch gesünder als krank, ob nun dick oder schlank.
Und wie war das mit dem Wein? Um den kümmern wir uns im nächsten Beitrag.
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Referenzen:
1. Iliodromiti S et al. The impact of confounding on the associations of different adiposity measures with the incidence of cardiovascular disease: a cohort study of 296 535 adults of white European descent. doi: 10.1093/eurheartj/ehy057
2. The Global BMI Mortality Collaboration. Body-mass index and all-cause mortality: individual-participant-data meta-analysis of 239 prospective studies in four continents. Lancet 2016;388(10046):776-86
3. Flegal KM et al. Association of all-cause mortality with overweight and obesity using standard body mass index categories: a systematic review and meta-analysis. JAMA 2013;309(1):71-82
4. Chang VW et al. The obesity paradox and incident cardiovascular disease: A population-based study. PLoS One 2017;12(12):e0188636.