Im Hinblick auf den Lebensstil holt uns bzw. unsere Patienten die Trägheit der Vergangenheit ein. Umgekehrt gilt: Wer heute aktiv wird, verbessert sein metabolisches Karma in der Zukunft.
Von der therapeutischen Trägheit fühlte sich wohl niemand angesprochen, vom Inhalt des letzten Beitrags hoffentlich schon. Wir waren am deutschen Einheitsfeiertag gar nicht träge, sondern haben uns beim EADS 2018 umgeschaut. Der 54. Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes findet nämlich gerade in der Messe Berlin statt, also vor unserer Haustür.
Der gemeinnützige EADS e. V., dem laut Website "über 5.000 aktive Mitglieder aus über 100 Ländern weltweit" angehören, hat seinen Sitz übrigens in Düsseldorf. Mitglied können diabetologisch interessierte Fachkräfte, Wissenschaftler und Studenten werden (wen’s interessiert: hier der PDF-Link zur Satzung). Der Kongress, der jedes Jahr in einer anderen europäischen Stadt stattfindet, ist eine große Sache: Er geht über fünf Tage und die mehr als 1.200 Vorträge und Präsentationen werden von insgesamt rund 15.000 Teilnehmern aus über 130 Ländern besucht.
Da kann nicht mal die Jahrestagung der amerikanischen Diabetesgesellschaft ADA mithalten. Die 78. Scientific Sessions, Ende Juni in Orlando (Florida) abgehalten, wurden "nur" von ungefähr 12.000 Menschen besucht, wie Prof. Jens Aberle vom UKE in einem Webcast berichtet. Den ersten Teil seines Vortrags widmet Aberle dem Thema "Lebensstiltherapie" und der DiRECT-Studie, die auf dem amerikanischen Diabeteskongress "sehr prominent vertreten war".
Klingelt es bei Ihnen? Es geht um die Heilung von Diabetes und das auch noch ohne Medikamente – ein Thema mit Sprengkraft, das wohl noch größere Aufmerksamkeit erlangen wird. Zwei Beiträge auf esanum haben sich schon mit den beeindruckenden Ergebnissen der DiRECT-Studie beschäftigt: einer im Blog (Diabetes-Heilung – eine Glaubensfrage?), der andere im Journal Club (Komplette Remission des Typ-2-Diabetes in vielen Fällen möglich?).
Kopf des im hausärztlichen Setting ausgelegten DiRECT-Studienprogramms ist der Kliniker und Wissenschaftler Prof. Roy Taylor (Newcastle, Großbritannien). Zusammen mit Prof. Merlin Thomas (Melbourne, Australien) und Prof. Michael Stumvoll (Leipzig) gestaltete Taylor ein interessantes, von Novartis gesponsertes Abendsymposium beim EADS. Für den Unterhaltungswert sorgten vor allem der Brite und der Australier mit ihren Folien und Ausführungen.
"Remember the 80’s – your health does", stand auf der ersten Folie von Thomas. Klar, das metabolische Gedächtnis: Unser Lebensstil in der Vergangenheit macht sich auch in unserer gesundheitlichen Gegenwart und Zukunft bemerkbar. Das gilt aber auch für Lebensstilinterventionen, deren positive Effekte sich noch Jahrzehnte später messbar auswirken.
In der chinesischen Da-Qing-Studie unterzogen sich die Teilnehmer mit gestörter Glukosetoleranz (IGT) in der Interventionsgruppe über 6 Jahre einer Diät, körperlicher Aktivität oder beidem. Verglichen mit der Standardbehandlung lagen die Diabetes-Inzidenz nach 23 Jahren um 17 % und die Gesamtmortalität um 10 % niedriger (73 % vs. 90 % bzw. 45 % vs. 55 %). Entwickelte sich der Diabetes früher, war auch die kumulative Todesfallrate entsprechend erhöht (nach 0–10 Jahren 3,9fach, nach 10–20 Jahren 2,5fach gegenüber Diabetesmanifestation erst nach 20 Jahren oder gar nicht).
Im Diabetes Complications and Control Trial (DCCT) machte sich eine bessere therapeutische Kontrolle bei Typ-1-Diabetikern über 6,5 Jahre statistisch zunächst kaum bemerkbar. Dafür war dann auch noch mehr als 20 Jahre später das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall oder Tod im Intensivarm um ein Drittel reduziert.
So auch in der STENO-2-Studie: Die verstärkten Anstrengungen zur Stoffwechselkontrolle im Interventionsarm machten im knapp 8 Jahre währenden Studienzeitraum keinen Unterschied aus. In der Nachbeobachtung nach über 21 Jahren war das Bild ein anderes: Die kumulative Mortalität erreichte in der Gruppe mit Standardbehandlung knapp 8 Jahre vor der Intensivgruppe die 50 %-Marke: Für jedes Jahr intensiver Kontrolle also quasi ein Lebensjahr mehr!
Solche positiven "Karma-Effekte" durch frühzeitige Aktivitäten zur Stoffwechselkontrolle betreffen natürlich nicht nur den Blutzucker, sondern auch andere Parameter wie etwa Blutdruck und Blutfette.
Als mögliche Gründe für die beobachteten Langzeitvorteile der frühzeitigen Interventionen listete Thomas auf:
Das Fazit des Abends lautet also: Der Körper vergisst nichts! Das gilt erfreulicherweise nicht nur für die Konsequenzen der Über- und Fehlernährung, sondern auch für die positiven Folgen von Korrekturmaßnahmen. Und so kann jeder an seinem metabolischen Karma arbeiten – je früher, desto besser. Eine frohe Botschaft, die wir unseren Patienten so plastisch und motivierend wie möglich vermitteln sollten.
Teil II des Beitrags folgt.
Aktuelle Expertenbeiträge zu diesem Thema lesen Sie jede Woche neu im esanum Diabetes Blog.
Referenz:
Type 2 diabetes: how to turn back the clock and change the future. Novartis Symposium at EASD 2018. Berlin, 3. Oktober 2018
Abkürzungen:
ADA = American Diabetes Association
UKE = Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf