Experten beklagen die schwindende diabetologische Kompetenz im Krankenhaus. Auf den politischen Gestaltungswillen sollte man aber nicht vertrauen, lieber auf den eigenen.
Der Koalitionsvertrag, mit dem wir uns im letzten Beitrag kurz beschäftigten, ist also jetzt unterzeichnet. Wir haben gar nicht alle Absichtsbekundungen aufgeführt, die in dem politischen Machwerk enthalten sind. Da wäre zum Beispiel die sektorenübergreifende Versorgung (Zeile 4.517ff).
Hierzu heißt es:
"Die Zusammenarbeit und Vernetzung im Gesundheitswesen müssen ausgebaut und verstärkt werden."
Ob das wohl von Koalitionsvertrag zu Koalitionsvertrag abgeschrieben wurde? Es ist jedenfalls der Dauerbrenner schlechthin. Die Sektorengrenzen im deutschen Gesundheitswesen gehören bekanntlich zu den am schärfsten bewachten und verteidigten Grenzen weltweit. Weiter heißt es:
"Für eine sektorenübergreifende Versorgung wollen wir weitere nachhaltige Schritte einleiten, damit sich die Behandlungsverläufe ausschließlich am medizinisch-pflegerischen Bedarf der Patientinnen und Patienten ausrichten."
Wie waren nochmal die bisherigen nachhaltigen Schritte? Wir stehen gerade etwas auf dem Schlauch …
"Dass Zentren interdisziplinäre Behandlungsteams mit hoher medizinischer Fachkompetenz bieten, die eng mit ambulanten Schwerpunktpraxen zusammenarbeiten, ist Kernpunkt diabetologischen Handelns."
Gut, nicht wahr? Steht aber leider nicht im Koalitionsvertrag, sondern in dessen Kommentierung durch die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und ihren amtierenden Präsidenten Prof. Dirk Müller-Wieland. Dass es sich dabei vor allem um ein Wunschbild handelt, wird aus dem Nachsatz erkennbar: "Realität in den vergangenen Jahren ist leider der Abbau von Lehrstühlen für Diabetologie und diabetologischen Abteilungen in den Kliniken. Dadurch sehen wir den Nachwuchs gefährdet. Deshalb werden wir die Politik hier besonders beim Wort nehmen."
Nun ja, ob das mit dem "beim Wort nehmen" was bringt, lassen wir jetzt mal unkommentiert. Es ist aber nicht nur der künftige Nachwuchs gefährdet, sondern auch die gegenwärtige Behandlungsqualität. Das hat gerade eben Prof. Stephan Martin (Düsseldorf) in einem Experten-Kommentar mit dem Titel "Diabetes und Krankenhaus – Zwei Welten ohne Schnittmenge" angemahnt. Mit Verweis auf „"Berichte von Patienten oder von niedergelassenen Ärzten" schildert er ein Fallbeispiel, das in der deutschen Versorgungsrealität "keine Seltenheit" darstellt:
Eine junge schlanke Patientin mit Erstmanifestation eines Typ-1-Diabetes wird in einer Klinik behandelt. Auf welches Behandlungsregime tippen Sie? Welches würden Sie erwägen, wenn es um Ihre Patientin ginge?
Die Antwort auf die zweite Frage kennen nur Sie selbst. Aus der betreffenden Klinik wurde die Patientin nach viertägigem Aufenthalt mit einer "Kombitherapie aus Basalinsulin, Metformin und einem SGLT2-Inhibitor" entlassen. Der Blutzucker lag über 300 mg/dl und die diabetestypische Symptomatik mit Polydipsie und Polyurie persistierte logischerweise.
Ein starkes Stück. Hier hatte wohl jemand schlicht keine Ahnung oder im besten Fall Typ 1 mit Typ 2 verwechselt: kein prandiales Insulin, dafür aber zwei Therapeutika, die für den Typ-1-Diabetes gar nicht zugelassen sind. Ein bewusster Einsatz von Metformin als Off-Label-Option ist nicht anzunehmen und kommt in diesem Fall auch nicht in Frage.
"Über 80 Prozent der deutschen Krankenhäuser können keine qualifizierte Diabetesversorgung nachweisen", schreibt Martin – DRG-System sei Dank. Der Chef des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums schlägt als pragmatische Lösung für dieses "massive Qualitätsproblem" vor, die Kodierung der Nebendiagnose Diabetes grundsätzlich an die Existenz diabetologischer Behandlungsstrukturen zu knüpfen. Ein gutes Qualitätsmanagement müsste belohnt, ein fehlendes finanziell abgestraft werden. "Gesundheitspolitik könnte sehr einfach sein", weiß Stephan. Und er weiß auch, dass es dazu wohl erstmal nicht kommen wird.
Dem beklagten Mangel an diabetologischer Kompetenz im Krankenhaus haben wir einen der ersten Beiträge in diesem Blog gewidmet. Die DDG knüpft auch in dieser Hinsicht Erwartungen an die heiß ersehnte nationale Diabetesstrategie. Statt auf sie zu warten, sollten verantwortungsvolle Kliniker und Krankenhausmanager sich schon jetzt um die Optimierung der Behandlungsqualität ihrer vielen Patienten mit begleitender Diabetes-Erkrankung kümmern. Das ist die Art von Schritten, die tatsächlich nachhaltig sind. Mit der routinemäßigen Blutzuckermessung bei der Patienten-Erstaufnahme fängt es an. Einweisende Ärzte können sich bei Bedarf etwa am DDG-Zertifikat "Klinik für Diabetes-Patienten geeignet" orientieren.
Aktuelle Expertenbeiträge zu diesem Thema lesen Sie jede Woche neu im esanum Diabetes Blog.