Eine Angewohnheit, von der man einfach nicht loskommt

Kann Fast Food so abhängig machen wie Alkohol, Zigaretten oder gar Drogen? "Ja", sagt der Pulitzer-Preisträger Michael Moss in seinem Buch "Hooked".

Kann Fast Food so abhängig machen wie Alkohol, Zigaretten oder gar Drogen? "Ja", sagt der Pulitzer-Preisträger Michael Moss in seinem Buch "Hooked". 

In einem Gerichtsverfahren wurde der Vorstandsvorsitzende des Tabakriesen Philip Morris, von dessen Band zur Blütezeit 580 Mio. Zigaretten pro Tag liefen, befragt, wie Abhängigkeit zu definieren ist. Er antwortete: "Ein sich wiederholendes Verhalten, das einige Menschen nur schwer wieder ablegen können." Dies lässt sich neben Zigaretten auch über eine weitere Gruppe von Produkten sagen, die Morris jahrzehntelang herstellte: Fertignahrungsmittel.1,2

Michael Moss, investigativer Journalist und Bestseller-Autor, zeigt in seinem neuen Buch "Hooked" anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse zu Abhängigkeiten, interner Industriedokumente und Interviews mit Insidern auf, wie Hersteller stark verarbeiteter Nahrungsmittel in sorgfältiger Kleinarbeit Produkte entwickelt haben, die das Belohnungssystem im Gehirn kapern, Heißhunger und Überernährung auslösen und damit die globale Epidemie von Übergewicht und chronischen Erkrankungen anheizen.

Die Bezeichnung Fast Food bekommt noch eine andere Bedeutung

Der Autor maß Fertigprodukten, wie Cheeseburgern, Chips und Eiscreme, früher kein so hohes Suchtpotenzial bei wie Alkohol, Rauchen oder Drogen. Doch seine Recherchen haben ihn umgestimmt.
In seinem Buch liefert er viele Antworten auf die Frage, wie die Hersteller unsere Gewohnheiten, unsere Biologie, unsere psychischen Eigenheiten und unsere Unwissenheit ausgenutzt haben, um Lebensmittel in Suchtmittel zu verwandeln. Dass nicht jeder gleichermaßen abhängig wird, hat vielleicht zur Unterschätzung des Problems beigetragen, meint Moss, dabei wissen wir, dass auch nicht jeder von Schmerzmitteln oder Alkohol abhängig werden muss.

Ob wir in einen unkontrollierten Überkonsum abrutschen oder nicht, hat viel damit zu tun, wie schnell eine Substanz das Gehirn erregt. Je schneller sie unsere Belohnungsschaltkreise erreicht, desto stärker ist ihr Suchtpotenzial. Deshalb erzeugt das Rauchen einer Zigarette größere Belohnungsgefühle als das Tragen eines Nikotinpflasters. Kein Suchtmittel jedoch kann die Belohnungsschaltkreise so schnell aktivieren wie unser Lieblings-Fast Food (im wahrsten Sinne des Wortes). Der Rauch einer Zigarette braucht 10 Sekunden, um das Gehirn anzuregen, aber eine Prise Zucker auf der Zunge schafft dies in etwas mehr als einer halben Sekunde, oder 600 Millisekunden, um genau zu sein, schreibt Moss. "Das ist fast 20 Mal schneller als bei Zigaretten."1

"Unser Körper ist stark auf Süßes orientiert und so haben die Lebensmittelgiganten 56 Arten von Zucker entwickelt, die sie ihren Produkten zusetzen und Wege gefunden, um unsere evolutionäre Vorliebe für schnelle, verzehrfertige Lebensmittel auszunutzen. Moss zeigt auf, wie die Lebensmittelindustrie – einschließlich großer Unternehmen wie Nestlé, Mars und Kellogg's – nicht nur versucht hat, das Suchtpotenzial von Lebensmitteln zu verbergen, sondern es sogar auszunutzen. Während die Raten von Übergewicht weiter steigen, behaupten die Hersteller nun, Zutaten hinzuzufügen, die unsere zwanghaften Essgewohnheiten mühelos wiedergutmachen könnten", schreibt der Klappentext.3

Profit vor Gesundheit

Auch diese Seite stellt er dar: dass einige Hersteller sich in den letzten Jahrzehnten der süchtig machenden Wirkung ihrer Produkte bewusst waren und drastische Maßnahmen ergriffen. Sie begannen, die Wissenschaft auf problematische Weise zu kontrollieren und Gesetze einzuführen, die sie vor Klagen auf Schadensersatz schützen.

Der Allgemeinmediziner Dr. Colin Bannon, den wir in einem Neurologie-Beitrag zu Zucker-Überkonsum erwähnt hatten, bringt in der Zeitschrift The Guardian einen Lösungsvorschlag vor, der wahrscheinlich nicht umgesetzt werden wird, aber der augenblicklich mehr bewegen würde als ein wenig öffentliche Entrüstung, die zumeist ohne große Konsequenz verpufft: Unternehmen, die ein solches "Anti-Engagement" bezüglich der Gesundheit der Bevölkerung zeigen, sollten an den öffentlichen Kosten der von ihnen mitverursachten Krankheiten beteiligt werden. Da er in Großbritannien praktiziert, führt er als nur ein Beispiel an: etwa 10% der NHS-Ausgaben entfallen inzwischen auf Diabetes, 2020 waren es £10 Mrd. Da zu derartigen Beträgen der Bezug fehlt: das entspricht £1,5 Mio. pro Stunde oder £25.000 pro Minute. Nur für Diabetes. Bis 2035 wird mit 17 Mrd. jährlich gerechnet.4
Vorangetrieben werden diese astronomischen Zahlen vor allem von Nahrungsmitteln mit hohem Zuckergehalt. Die Auswirkungen schlechter Ernährung enden natürlich noch lange nicht bei Diabetes und machen uns anfälliger für alle möglichen Erkrankungen. Studien an übergewichtigen Kindern in den USA zeigen, dass Zucker per se toxisch ist. "Wie viele Menschen sind gestorben, bevor Tabak geächtet wurde? Zweifellos ist jetzt Zucker an der Reihe", schließt Dr. Bannon.5

Ausweichmanöver statt echter Reformbereitschaft

Starbucks hatte sich vor Jahren verpflichtet, den Zuckergehalt seiner Getränke bis 2020 um 25% zu reduzieren. Das bedeutet, dass ihr Glühwein statt 25 "nur noch" 19 Löffel Zucker (!) enthalten soll. Dr. Bannon schreibt: "Der bedauernswerte Kunde, auf dessen Unwissenheit diese Geschäfte angewiesen sind, wird also etwa zweieinhalb Meilen zu Fuß gehen müssen, um diese leeren überschüssigen Kalorien zu verbrennen. Ein unwahrscheinliches Szenario, das noch weniger wahrscheinlich wird, wenn es von einem Muffin oder einer anderen ernährungsphysiologischen Handgranate begleitet wird."5

Michael Moss beschreibt noch einen weiteren, zynischen Schachzug: in den späten 70ern begannen Lebensmittelunternehmen, zahlreiche beliebte Diätunternehmen aufzukaufen und profitierten so von unseren Versuchen, das Gewicht zu verlieren, das wir durch den Verzehr ihrer Produkte zugelegt hatten. Lebensmittelgigant Heinz kaufte Weight Watchers 1978 für 72 Mio. Dollar. Unilever (stellt Klondike-Riegel und Ben & Jerry's Eiscreme her) zahlte 2000 2,3 Mrd. Dollar für SlimFast und übernahm später u. a. die Bio-Teemarke Pukka. Nestlé kaufte Jenny Craig 2006 für 600 Mio. Dollar, Danone kaufte die Alpro-Schwester Provamel – die Liste ist lang.1
Ähnliches geschieht auch in anderen Branchen, z. B. in der Kosmetikindustrie, wo Hersteller, die wissen, dass sie ein bestimmtes Image nicht wieder loswerden, alternative oder grüne Marken aufkaufen (L’Oréal kaufte Santé, Heliotrop, Logona, neobio etc.).6 

Der Klappentext des Buches, welches schon jetzt ein New York Times #1 Bestseller ist, schließt mit den Worten: "Ein fesselnder Bericht über die Rechtsstreitigkeiten, die heimtückischen Marketingkampagnen und die hochmoderne Lebensmittelwissenschaft, die uns in die aktuelle Krise der öffentlichen Gesundheit geführt haben."3

Referenzen:
1. O’Connor, A. This Is Your Brain on Junk Food. The New York Times https://www.nytimes.com/2021/03/25/well/eat/hooked-junk-food.html (2021).
2. Thorley, J. A habit you just can’t quit. The Lancet Diabetes & Endocrinology 9, 335 (2021).
3. Moss, M. Hooked. https://www.penguin.co.uk/books/1107898/hooked/9780753556320.
4. Editor. The cost of diabetes to the NHS. Diabetes https://www.diabetes.co.uk/cost-of-diabetes.html (2019).
5. Bannon, C. Like tobacco, sugar must be made a pariah | Letters. The Guardian https://www.theguardian.com/society/2016/feb/18/like-tobacco-sugar-must-be-made-a-pariah (2016).
6. Noch ein Biomarkt schmeißt Naturkosmetik-Marken raus, weil sie von L’Oréal übernommen wurden. Utopia.de https://utopia.de/loreal-logocos-logona-sante-bio-markt-marktladen-102682/ (2018).