Droht ein "Tsunami" durch unentdeckte (Prä-) Diabetes-Fälle? Jeder fünfte Schlanke trägt einen gestörten Stoffwechsel mit sich herum. Tipp vom Experten: Auf das Beinfett schauen!
Der Reformationstag ist vorbei, dafür steht nun der Weltdiabetestag am 14. November vor der Tür. Aus diesem Anlass lief über den Ticker der Deutschen Presseagentur (dpa) eine Meldung, die zu unserem letzten Beitrag (Diabetes-Heilung – eine Glaubensfrage?) passt. Darin wird Prof. Andreas Pfeiffer von der Berliner Charité folgendermaßen zitiert: "Viele Leute sind motiviert zum Abnehmen, wenn sie mit 45 Diabetes haben. Wenn sie 10 bis 15 Kilo schaffen, kann der Diabetes dauerhaft weg sein. Aber nur, wenn sie das Gewicht halten. Das ist aber schwer."
Deutlich leichter ist es, den Prädiabetes loszuwerden. Dazu Pfeiffer: "Fünf Kilo abnehmen, eine halbe Stunde pro Tag körperlich aktiv sein und sich einigermaßen gesund ernähren – damit lässt sich das Risiko um 80-90% senken." Das ist eigentlich sehr erfreulich. Die Umsetzung ist nur so schwierig, wie wir aus der Praxis wissen. Noch schwieriger als bei manifester Zuckerkrankheit ist es, Menschen mit Prädiabetes zur heilsamen Lebensstiländerung zu bewegen. Ihnen „mangelt“ es nicht nur an einer spürbaren Krankheitslast, sondern auch noch an einer "handfesten Diagnose".
"Prädiabetes ist bei uns nicht als Krankheit anerkannt, ist also gar nicht auf der Agenda", beklagt der Tübinger Diabetes-Forscher Prof. Norbert Stefan in der erwähnten dpa-Meldung, die Sie hier auf esanum nachlesen können. Dabei könnten die Vorstufen des Typ-2-Diabetes durch entsprechende Signale bei den Blutzucker-, Blutfett- und Blutdruckwerten identifiziert werden – und zwar auch bei scheinbar unverdächtigen, normalgewichtigen Patienten.
"Aber auch Ärzte erliegen dem Diabetes-Klischee. Bei schlanken Patienten tippen sie meist nicht auf die Zuckerkrankheit", meint Stefan. Wir lassen das mal so stehen und hoffen, es wirkt. Stefans Wunsch: Für jeden Menschen einmal im Jahr ein Blutzuckertest.
Falls der Tübinger Professor Recht haben sollte, könnte die Situation ohne bessere Früherkennung noch dramatischer werden als sie mit über 6 Millionen diagnostizierten Diabetes-Patienten in Deutschland ohnehin schon ist: "Das ist wie ein Tsunami unter der Wasseroberfläche. Und ohne frühes Gegensteuern trifft er auf Land."
Dass die Formel "dick = Diabetes" nicht stimmt, dürfte vielen Kollegen durchaus bewusst sein. Sie stimmt in beiden Richtungen nicht: Nicht jeder Dicke wird irgendwann Diabetiker und nicht jeder Schlanke ist davor geschützt. Bei weitem nicht, wie in Metaanalysen ermittelt wurde: Demnach gibt es unter den schlanken Menschen eine Subpopulation mit geschädigtem Stoffwechsel, und die ist mit knapp 20% ziemlich groß. Die Betroffenen haben Im Vergleich zu metabolisch Gesunden ein mehr als dreifach höheres Herz-Kreislauf- und Sterberisiko. Auch gegenüber stoffwechselgesunden Übergewichtigen sind sie im Nachteil.
Ein Team um Norbert Stefan hat sich auf die Suche nach phänotypischen Besonderheiten der Risikoträger gemacht und die Daten von 981 Probanden ausgewertet. Die Erkenntnisse wurden im Sommer hochrangig in Cell Metabolism publiziert1. In Übereinstimmung mit den Metaanalysen fanden die Tübinger Wissenschaftler bei 18% des schlanken Studienkollektivs die Kriterien eines ungesunden Stoffwechsels erfüllt: das Vorliegen von mindestens zwei der sechs Risikoparameter für ein Metabolisches Syndrom.
Bei der Analyse von Körperfett, Fettverteilung und Fettanteil in der Leber mittels Magnetresonanz-Spektroskopie zeigte sich als assoziierter Risikofaktor eine geringe Fettspeicherung an den Beinen, also ein ähnlicher Phänotyp wie bei Menschen mit Lipodystrophie. Schwächer assoziierte Auffälligkeiten wurden bei der Untersuchung von Insulin-Empfindlichkeit, Insulin-Sekretion, Blutgefäßen und körperliche Fitness entdeckt.
Im Unterschied dazu gelten bei Übergewichtigen eine nichtalkoholische Fettleber und ein erhöhter Bauchfettanteil als die größten Risikofaktoren für eine Stoffwechselentgleisung.
"'Hüftgold' hält Schlanke gesund", lautet die zusammenfassende Formel der deutschen Wissenschaftler, die vorschlagen: Schlanke Menschen mit zwei oder mehr Merkmalen des Metabolischen Syndroms und kaum Fett an den Beinen sollten sorgfältig auf eine mögliche Stoffwechselstörung hin untersucht werden. Und die Hoffnung für die Zukunft lautet: personalisierte Prävention. Also maßgeschneiderte Lebensstilinterventionen oder spezifische medikamentöse Optionen für die verschiedenen Untergruppen von schlanken und übergewichtigen Menschen mit erhöhtem Diabetes-Risiko.
Ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel können auch bei Normalgewichtigen eine (prä-) diabetische Entwicklung fördern, zumal bei ungünstiger genetischer Veranlagung. In der aktuellen dpa-Mitteilung weist Stefan auf "Nomaden-Gene" hin und auf Unterschiede in der multiethnischen Gesellschaft, die es ärztlicherseits zu berücksichtigen gilt. Rund 100 Gene sind derzeit bekannt, die das Diabetes-Risiko erhöhen können. Dominant vererbt werden 8 Diabetes-Formen, die sich auch bei Schlanken mit bestimmten Genmutationen manifestieren können. Pfeiffer setzt für das künftige Screening auf entsprechende Gen-Marker: "In 5-10 Jahren machen wir das als Routinediagnostik für das ganze Genom."
Aktuelle Expertenbeiträge zu diesem Thema lesen Sie jede Woche neu im esanum Diabetes Blog.
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