Wissen Sie, welcher Weltkongress gerade in Berlin stattfindet? Der Weltpsychiatriekongress in Kombination mit dem Jahreskongress der deutschen Fachgesellschaft, also eine Kooperation der World Psychiatric Association und DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde).
Uninteressant, da anderes Fachgebiet? Keinesfalls. Denn die Psyche mischt immer mit, wenn es um Gesundheit und Krankheit geht. Das dürfte wohlbekannt sein, wird im Praxisalltag aber aus verschiedenen Gründen häufig eher verdrängt.
So kennen Sie vermutlich die "psychologische Insulinresistenz". Vielleicht nicht unter dieser wissenschaftlich gebrauchten Bezeichnung, aber aus der eigenen Praxis. Gemeint ist der Widerstand von Patienten mit Typ-2-Diabetes gegen den Beginn oder die Intensivierung einer erforderlichen Insulintherapie.
Man könnte das natürlich auch schlicht als "Non-Compliance" bezeichnen. Abgesehen vom diskriminierenden Unterton käme dadurch aber nicht so gut zum Ausdruck, dass hier verhaltenstherapeutisches Know-how gefragt ist. Geprägt hat den Begriff der psychologischen Insulinresistenz William Polonsky1, ein klinischer Psychologe und Professor für Psychiatrie an der University of California in San Diego. Polonsky gründete auch das Behavioral Diabetes Institute, das sich als weltweit erstes seiner Art gänzlich den psychologischen Bedürfnissen von Diabetes-Patienten widmet.
Das Phänomen der (anfänglichen) Insulinspritzen-Verweigerung ist häufig. In einer Arbeit von Polonsky und Kollegen wurde schon 2005 ein Anteil von 28% beschrieben2. Das hat nun eine neue US-amerikanische Studie3 für den Zeitraum von 2000-2014 in etwa bestätigt. Unter Typ-2-Diabetikern, die eine Insulintherapie benötigten, wollten fast 30% davon erstmal nichts wissen. Der Therapiebeginn verzögerte sich dadurch im Schnitt um mehr als zwei Jahre. Die Studie stammt federführend vom renommierten Brigham and Women’s Hospital in Boston und ist auch durch ihren von der Digitalisierung geprägten Kernansatz interessant.
Den Wissenschaftlern ging es darum, einen speziellen Algorithmus für maschinelle Sprachverarbeitung zu entwickeln und zu validieren, wobei sie sich der öffentlich verfügbaren Plattform Canary bedienten. Mit dem Algorithmus wurden die elektronisch erfassten Aufzeichnungen von 1.501 zufällig ausgewählten Allgemeinärzten ausgewertet. Sie betrafen 3.295 Patienten mit unzureichend kontrolliertem Typ-2-Diabetes, denen deshalb zu einer Insulintherapie geraten worden war.
Explizit wurde darin nur in 0,02% der analysierten Sätze die Ablehnung der Insulintherapie festgehalten. Insgesamt enthielt knapp 1% der Krankenakten Hinweise auf eine psychologische Insulinresistenz. Die Sensitivität, die Spezifität und der positive Vorhersagewert des Sprachverarbeitungsalgorithmus waren mit 100%, 99,9% bzw. 95% sehr hoch.
In der Patienten-Gruppe mit den höchsten HbA1c-Werten war der Widerstand gegen die Insulintherapie am größten. Ob es sich dabei um eine Folge der Verzögerungstaktik handelt, lässt sich vermuten, aufgrund des retrospektiven Studiendesigns aber nicht beweisen. Nach dem anfänglichen Absetzen der verordneten Insulintherapie wurde diese in 38% der Fälle doch noch aufgenommen. In den 790 Tagen bis zum Einlenken stieg der HbA1c von 8,7% auf 9,1% an (alles Mittelwerte).
Über mögliche Motive für die Ablehnung der Insulinbehandlung geben die Studienergebnisse keine Auskunft. Die Autoren sehen weiteren Forschungsbedarf, um die Gründe, Risikofaktoren und Langzeitauswirkungen zu ermitteln.
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