Stirbt die Blutzucker-Selbstmessung aus? Paradigmenwechsel für das Selbstmanagement

Im vergangenen Jahr hat es einen „Meilenstein in der Versorgung von Diabetikern in Deutschland“ gegeben. So hat Corinna Hahn, die stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Diabetiker-Bundes den G-BA-Beschluss kommentiert, die...

Im vergangenen Jahr hat es einen „Meilenstein in der Versorgung von Diabetikern in Deutschland“ gegeben. So hat Corinna Hahn, die stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Diabetiker-Bundes den G-BA-Beschluss kommentiert, die kontinuierliche interstitielle Glukosemessung mit Real-Time-Messgeräten (rtCGM) in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen.

rtCGM ist in den GKV-Katalog aufgenommen, iscCGM noch nicht

Im Gegensatz zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM), die es schon seit mehr als zehn Jahren gibt, ist das Flash-Glukose-Monitoring (FGM) noch relativ neu. Seine Markteinführung erfolgte im Herbst 2014. Es wird auch als „CGM mit intermittierendem Scannen (iscCGM)“ bezeichnet. Im Gegensatz zum rtGCM sind beim FGM keine täglichen Blutglukosemessungen zur Kalibrierung des Systems erforderlich.

Bei der DDG-Herbsttagung prognostizierte der Diabetologe Dr. Thorsten Siegmund vom Isar Klinikum München, dass „mindestens 50%“ aller Diabetiker (Typ 1 und Typ 2) mit intensivierter Insulintherapie „in fünf Jahren nur noch mit FGM oder CGM ihre Therapie steuern. Die Blutzuckerselbstmessung stirbt aus“.

Diese Entwicklung dürfte in den meisten diabetologisch orientierten Praxen angekommen sein. Was bringt sie mit sich?

Aktiveres Selbstmanagement der Patienten erfordert Schulung

Auf jeden Fall die Notwendigkeit zur Schulung und den Bedarf an neuen bzw. adaptierten Schulungsstrategien und -materialien für das aktivere Selbstmanagement der Patienten. In den „Praktischen Hinweisen“ der Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Technologie (AGDT) der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) steht an erster Stelle: „Nutzung der rtCGM-/FGM(iscCGM)-Systeme nur nach fachkompetenter Einweisung und Teilnahme an einer strukturierten Schulung.“

Die AGDT und ihre Schwester-AG Pädiatrische Diabetologie (AGPD) haben ein von Herstellern unabhängiges Schulungs- und Behandlungsprogramm zur CGM namens SPECTRUM entwickelt. Es ist „curriculär ausgearbeitet und ist für die Anwendung in ambulanten und stationären Diabeteszentren gedacht“.

Abrechnungsziffer fehlt noch

Ein Problem ist, dass die Kosten der Schulung bisher noch nicht abgerechnet werden können. Eine vorläufige Abrechnungsziffer ist dringend notwendig. Von der großen Nachfrage nach CGM berichtete bei der Herbsttagung auch eine Northeimer Kollegin: „Wir werden von Patienten überrannt“, wird sie in der Ärzte Zeitung zitiert.

Die AGDT hat im November eine revidierte Fassung ihrer Stellungnahme vom Januar 2016 veröffentlicht – „aufgrund neuer Studienergebnisse und eines FDA-Hearing zum Thema im Juli 2016“. Die Expertengruppe geht darin von einem „Paradigmenwechsel in der Zukunft“ aus.

Der Grund: „die bisher durchgeführten klinischen Studien mit rtCGM-/iscCGM-Systemen (deren Ergebnisse teils noch nicht publiziert wurden) und die positive Haltung eines US-Expertenteams zum Ersatz von Blutglukosemessungen durch Messwerte dieser Systeme“.

AGDT geht von künftigem „Paradigmenwechsel“ aus

Gemeint sind damit unter anderem die Ergebnisse der IMPACT-Studie zur Anwendung des FGM-Systems, an der 241 erwachsene, gut kontrollierte Typ-1-Diabetiker teilnahmen. Mit ihrem randomisierten Design weist die europäische Multicenter-Studie einen deutlich höheren Evidenzgrad auf als die Modellberechnung, die der Behauptung des Herstellers zugrunde liegt – und damit der Nutzung der interstitiellen Glukosewerte für therapeutische Entscheidungen, v.a. zur Festlegung der Insulindosis als Ersatz für die konventionelle Selbstmessung der Blutglukose.

IMPACT-Studie: Reduzierung der täglichen Hypoglykämie-Dauer um 38%

In der Interventionsgruppe der IMPACT-Studie erfassten die Teilnehmer ihre Glukosewerte durchschnittlich 15,1-mal am Tag mit dem FGM. Eine konventionelle Blutzuckermessung nahmen sie erwartungsgemäß viel seltener vor als die Diabetiker in der Kontrollgruppe (0,5-mal vs. 5,6-mal pro Tag). Gleichzeitig sank die tägliche Hypoglykämie-Dauer mit Glukosespiegeln < 70 mg/dl unter FGM von 3,38 auf 2,01 Stunden hochsignifikant um 38% stärker als in der Vergleichsgruppe (von 3,44 auf 3,27 Stunden). Die Dauer hyperglykämischer Phasen (> 240 mg/dl) fiel unter Verwendung der Sensor-Technologie um 19% geringer aus.

Die Stoffwechselkontrolle verschlechterte sich dabei nicht. Der HbA1c-Wert hatte sich bei Studienende nicht relevant (6,94 vs. 6,79) und nicht unterschiedlich zur Kontrollgruppe erhöht. Dafür gaben die FGM-Nutzer eine höhere Therapiezufriedenheit an als die Probanden mit konventioneller Messung. Bezüglich der Angst vor Hypoglykämien bestand kein Unterschied. Inwieweit sich diese unter Studienbedingungen erzielten Ergebnisse auf den Praxisalltag übertragen lassen, steht freilich noch auf einem anderen Blatt.

Zehn IMPACT-Teilnehmer berichteten in Zusammenhang mit der sensorbasierten Messung über insgesamt 13 unerwünschte Ereignisse: allergische Reaktionen (1x schwer und 3x moderat), Juckreiz (1x mild), Rash (1x mild), Symptome an der Einstichstelle (4x schwer), Erytheme (1x schwer, 1x mild) und Ödem (1x moderat). Gerätebedingte Hypoglykämien oder Sicherheitsprobleme wurden nicht beobachtet. Klar ist, dass FGM-Nutzer möglichst keine gestörte Hypoglykämie-Wahrnehmung aufweisen sollten, da das System keine Alarmfunktion besitzt.

Einsatz hängt nicht vom Diabetes-Typ ab, sondern von der Therapie

Prof. Dr. Thomas Haak aus Bad Mergentheim fasste kürzlich in einem Interview als wichtigstes Ergebnis der IMPACT-Studie zusammen, dass „Patienten, die FGM verwenden, eine Stunde und 24 Minuten weniger Zeit pro Tag in einer Hypoglykämie verbringen als Patienten, die normale Blutzuckerselbstmessungen durchführen. In dieser Studie wurden ausschließlich gut eingestellte Patienten eingeschlossen. Daher beeindrucken mich diese Daten noch mehr“.

Für Haak hängt der Einsatz des FGM nicht am Diabetes-Typ, sondern an der Therapie. Prinzipiell kommen für ihn demnach alle Patienten, die eine ICT oder eine Insulinpumpen-Therapie durchführen und sich deshalb mehrmals täglich Insulin spritzen, dafür in Frage. Im Fall von Hautreizungen oder Allergien empfehlt er ein Hautschutzspray (z.B. Cavilon) oder das Aufkleben einer Hautschutzfolie, auf der anschließend der Sensor platziert wird.

Haak betont die Herausforderung, dass Arzt und Patient mithilfe entsprechender Programme die vielen generierten Daten systematisch auswerten und zugunsten der weiteren Therapieoptimierung sorgfältig interpretieren. Ein geeignetes Schulungsprogramm für FGM als neues Hilfsmittel für die Therapiesteuerung hält auch er für unabdingbar.

„Quantensprung“ durch elektronische Auswertung der vielen generierten Daten

Gleichzeitig spricht der Kliniker von einem „Quantensprung“ in der Diabetiker-Versorgung, den FGM für die meisten Diabetesteams darstelle. „Mich persönlich freut es, wenn ich sehe, dass sich immer mehr Diabetesberater und Diabetologen mit der systematischen Auswertung der Daten beschäftigen. Das ist zwar nicht neu, aber in der Vergangenheit gab es doch erhebliche Widerstände, sich mit elektronischer Patientendatenauswertung zu beschäftigen“, so Haak.

„Big Data“ kommt einem da unweigerlich in den Sinn – ein Thema, dem wir uns noch widmen werden.

Der Weg in die Regelversorgung für insulinpflichtige Diabetiker ist jedenfalls neben dem rtCGM offenbar auch für das icsCGM bereits abgesteckt. Seit knapp einem halben Jahr übernehmen von den großen Krankenkassen die Techniker und die DAK die Kosten für das einzige derzeit am Markt befindliche FGM-System FreeStyle Libre. Mit Beginn dieses Jahres finanziert laut Ärzte Zeitung auch die sächsisch-thüringische AOK PLUS den bei ihr versicherten Diabetikern mit ICT das pieksfreie Messverfahren. Voraussetzung: Der behandelnde Facharzt hat die therapeutische Notwendigkeit bestätigt sowie das FGM entsprechend verordnet und die Genehmigung wird vor Versorgungsbeginn eingeholt.

Aktuelle Expertenbeiträge zu diesem Thema lesen Sie jede Woche neu im esanum Diabetes Blog.

Referenzen:

  1. Meilenstein für Diabetiker: Die Kosten für Real-Time-Messgeräte werden demnächst von Krankenkassen übernommen. Mitteilung des Deutschen Diabetiker Bundes e.V. (DDB) auf //www.diabetikerbund.de/aktuelles/presse (Zugriff am 13.01.2017).
  2. Stellungnahme der AGDT zum Ersatz von Blutglukosemessungen durch Messungen mit Systemen zum kontinuierlichen real-time Glukosemonitoring (rtCGM) oder CGM mit intermittierendem Scannen (iscCGM). Revidierte Version vom 11. November 2016 aufgrund neuer Studienergebnisse und eines FDA-Hearing zum Thema im Juli 2016. (PDF-Link)
  3. Bolinder J et al. Novel glucose-sensing technology and hypoglycaemia in type 1 diabetes: a multicentre, non-masked, randomised controlled trial. Lancet 2016;388:2254-63.