Die Risikofaktoren im Zaum zu halten, ist eine lebenswichtige Angelegenheit für Patienten mit Typ-2-Diabetes. Therapeutische Trägheit scheint allerdings ein relevantes Problem zu sein.
Der "therapeutischen Trägheit" haben wir uns in diesem Blog schon mal zugewandt. Kurz nach der Sommerpause, mit frisch aufgeladenen Akkus, erscheint es opportun, das Thema nochmal aufzugreifen.
Anders als in unserem früheren Beitrag (Kasuistik: "Therapeutische Trägheit" bringt alten Diabetes-Patienten in Lebensgefahr) geht es diesmal nicht um ein "Deprescribing" bei zu ambitionierter (und fehlerhafter) Polypharmazie, sondern um das Gegenteil: das Unterlassen einer klinisch indizierten Therapieintensivierung.
"Every Life Deserves World Class Care" – ein schönes Motto, nicht wahr? Es ziert das Google-Suchergebnis der Website der Cleveland Clinic. In der bekannten US-amerikanischen Institution werden nach eigenen Angaben jedes Jahr über 4 Millionen Patienten behandelt. Mit dem Cleveland Clinic Journal of Medicine gibt das Non-Profit-Unternehmen auch eine fortbildungsorientierte Fachzeitschrift heraus, in dem eines von fünf Themenfeldern dem Diabetes gewidmet ist.
Nicht dort, sondern in Diabetes Care, dem Journal der US-amerikanischen Diabetes-Gesellschaft (ADA) , hat eine Autorengruppe der Cleveland Clinic kürzlich eine Arbeit über die "clinical inertia" – also die klinische bzw. therapeutische Trägheit – beim Management des Typ-2-Diabetes veröffentlicht. Auf der Basis von "Real-World"-Daten, aus dem echten Klinikleben also. Und zwar aus dem eigenen: Die Wissenschaftler haben sich die digitalen Krankenakten der Jahre 2005 bis 2016 aus dem eigenen Haus angeschaut.
Sie identifizierten eine Kohorte von 7.389 Patienten, die trotz stabiler Einstellung auf zwei orale Antidiabetika über mindestens 6 Monate einen HbA1c ≥ 7,0 % aufwiesen. Nach den Leitlinien, die eine quartalsweise HbA1c-Kontrolle bis zum Erreichen des Zielwerts empfehlen, sollte es sich hier prinzipiell um Kandidaten für eine forcierte Therapie handeln. Als Anzeichen für eine Therapieintensivierung werteten die Wissenschaftler beispielsweise eine Dosiserhöhung oder die Behandlung mit einem zusätzlichen Medikament.
Die Datenauswertung über die folgenden 6 Monate ergab allerdings ein recht träges Bild, nämlich keine Intensivierung der Therapie bei
Etwas zynisch könnte man jetzt anmerken, dass die an der Cleveland Clinic eben auch nur mit Wasser kochen. Die Ergebnisse passen zum Befund einer aktuellen Metaanalyse2, die die Autoren gleich zu Beginn ihres Beitrags zitieren. Die dort ermittelte mediane Zeitdauer bis zur Therapieintensivierung nach gemessener HbA1c-Zielwertüberschreitung betrug mehr als ein Jahr. Die zeitliche Spannbreite reichte dabei von einem Vierteljahr bis zu einem Zeitraum jenseits von 7 Jahren.
Die Cleveland- Autorengruppe um Kevin Pantalone hat in einer früheren Arbeit3 folgende therapeutischen Trägheitsraten bei Patienten unter insuffizienter Metformin-Monotherapie berichtet: 38 % (HbA1c > 7 %), 31 % (HbA1c > 7,5 %) und 28 % (HbA1c > 8 %).
In ihrem aktuellen Paper geben Pantalone et al ihrer starken Verwunderung über das lasche Verhalten der Klinikkollegen Ausdruck, abgesehen von Fällen, in denen etwa ein Patient über Compliance-Probleme klagt. Andererseits weisen die Studienautoren, wie es sich heute gehört, gleich selbst auf die Limitationen ihrer Untersuchung hin: Nichtmedikamentöse Interventionen (z. B. Beratungen zum Ernährungs- oder Gewichtsmanagement) wurden ebensowenig erfasst wie Verschreibungen, die nicht direkt auf die Blutzuckerkontrolle zielten, sondern möglicherweise "sekundären Zwecken" (z.B. der Gewichtsabnahme) dienten.
So, was können wir mit dieser Evidenz anfangen?
Zum einen ist klar, dass es sich in einer Reihe von Fällen nur scheinbar um therapeutische Trägheit und in Wahrheit um ein angemessenes ärztliches Vorgehen gehandelt haben wird. Denn wie wir alle aus der Praxis wissen, gilt bei so manchem Diabetiker und gerade in weit fortgeschrittenem Alter: weniger ist mehr (Medikamente) und höher ist verträglicher (HbA1c-Wert). Letzteres gilt, auch leitliniengestützt, vor allem bei geringerer Lebenserwartung, höherem Risiko für Hypoglykämie und mehreren Komorbiditäten.
Zum anderen ist aber auch klar, dass der HbA1c-Wert durchaus nicht so häufig gemessen wird, wie er eigentlich sollte. Und wir wissen um unsere gelegentliche Trägheit im therapeutischen Alltag (oder etwa nicht?!). Die analysierten Inaktivitätsraten sind jedenfalls zu hoch, um lediglich ein medizinisch gerechtfertigtes Abwarten abzubilden.
Die Ursachen für das Phänomen der therapeutischen Trägheit sind multifaktoriell und natürlich nicht nur bei den Ärzten, sondern auch bei den Patienten selbst und den systemischen Rahmenbedingungen zu suchen.
Als Impuls zur Reflexion über Optimierungsmöglichkeiten in der eigenen Praxis sind die Beobachtungsdaten aus der Cleveland Clinic sicher tauglich. Zumal gerade eine im New England Journal of Medicine publizierte schwedische Kohortenstudie4 bestätigt hat: Patienten mit Typ-2-Diabetes, die 5 Risikofaktoren (HbA1c, LDL, Blutdruck, Albuminurie, Rauchen) im Zaum halten, bringen ihre Lebenserwartung und ihr Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko damit in den Bereich der Normalbevölkerung. Gerade ein HbA1c-Wert außerhalb des Zielbereichs erwies sich in der Registerstudie als stärkster Prädiktor für Schlaganfall und Herzinfarkt.
Aktuelle Expertenbeiträge zu diesem Thema lesen Sie jede Woche neu im esanum Diabetes Blog.
Referenzen:
1. Pantalone KM et al. Clinical Inertia in Type 2 Diabetes Management: Evidence From a Large, Real-World Data Set. Diabetes Care 2018;41(7):e113-4. doi:10.2337/dc18-0116
2. Khunti K et al. Therapeutic inertia in the treatment of hyperglycaemia in patients with type 2 diabetes: a systematic review. Diabetes Obes Metab 2018;20:427-37
3. Pantalone KM et al. Intensification of diabetes therapy and time until A1C goal attainment among patients with newly diagnosed type 2 diabetes who fail metformin monotherapy within a large integrated health system. Diabetes Care 2016;39:1527-34
4. Rawshani A et al. Risk Factors, Mortality, and Cardiovascular Outcomes in Patients with Type 2 Diabetes. N Engl J Med 2018;379:633-44. doi:10.1056/NEJMoa1800256