Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir hoffen, dass Sie schöne und erholsame Weihnachtstage im Kreise Ihrer Liebsten verbringen konnten.
Mit der traditionell besungenen und ersehnten „weißen Weihnacht“ ist es leider nichts geworden. Sie liefert uns dafür die Assoziation für diesen Beitrag zum Jahreswechsel. Es geht nämlich um den Weißkitteleffekt. Für die Hypertonie ist er mittlerweile im ärztlichen Bewusstsein fest verankert. Doch wie steht es mit der Hyperglykämie?
Ein „vergessenes Syndrom“?
Ja, es gibt auch eine Weißkittel-Hyperglykämie. In einem Editorial1 im Journal of Clinical Medicine Research erinnern amerikanische Internisten von der Richmond University an dieses „vergessene Syndrom“. Anlass dafür dürfte ein 67-jähriger Patient sein, den die Autoren als aktuelles Fallbeispiel anführen. Bei ihm fielen im Rahmen von Routinemessungen die morgendlichen Nüchtern-Blutzuckerwerte höher als 126 mg/dl aus. Der HbA1c-Wert betrug dabei nur 5,3%. Weder Anamnese noch klinische Untersuchung ergaben Diabetes-relevante Hinweise. Zwar beschrieb sich der ehemalige Lehrer als nervöse Person, wirklich störend wirkte sich dieser Umstand in seinem Lebensalltag aber nicht aus.
Blutdruck und Blutzucker stressbedingt erhöht
Der ansonsten gesunde Patient wurde folglich in die Selbstmessung mit Teststreifen eingewiesen. Seine häuslich gemessenen Nüchtern- Blutzuckerwerte lagen in den nächsten beiden Jahren zwischen 86 und 100 mg/dl, die in der Klinik gemessenen zwischen 127 und 143 mg/dl und der HbA1c zwischen 5,3 und 5,5%. Symptome einer Hyperglykämie, einer Endorganschädigung oder sonstiger Komorbiditäten, die für die Werte-Diskrepanz hätten verantwortlich sein können: Fehlanzeige. Dafür umfasste das Weißkittel-Phänomen auch den Blutdruck des Mannes: Seit über 10 Jahren waren die in der Klinik gemessenen Werte (150-190/90 mmHg) beständig erhöht, bei der Heimmessung dagegen im Normbereich (110-130/80 mmHg).
An einer falschen Messtechnik des Patienten lag es nicht. Sie wurde mehrfach in der Sprechstunde überprüft. Mit einer relevanten Fehlerrate ist aber durchaus zu rechnen. Das zeigte die Studie2, in deren Veröffentlichung australische Diabetologen im Jahr 1992 die Weißkittel-Hyperglykämie erstmals beschrieben. Bei 19 von 34 nicht insulinpflichtigen Diabetikern waren die Glukosewerte nach kapillärer und venöser Entnahme signifikant um ca. 119 bzw. 83 mg/dl erhöht, wenn sie in der Klinik statt zuhause gemessen wurden. Bei den restlichen 15 Patienten gab es zwar auch eine Werte-Diskrepanz. Allerdings machten sie Fehler bei der Messung, die v.a. durch kognitive oder körperliche Beeinträchtigungen bedingt waren. Im Klinik-Setting waren auch die als Stressmarker erfassten Cortisol-Plasmaspiegel höher als in der vertrauten häuslichen Umgebung (418 vs. 359 nmol/l).
Laktat- und Noradrenalin-Anstiege als Stimuli
Alltagsstress, Beunruhigung aufgrund medizinischer Maßnahmen und akute Erkrankungen können nicht nur den Blutdruck, sondern auch den Blutzucker steigen lassen. Das haben weitere Studien gezeigt, die die Editorial-Autoren zitieren. Außerdem haben andere Untersuchungen Hinweise auf eine starke Korrelation zwischen den Blutzucker- und den Laktat- bzw. Noradrenalin-Konzentrationen geliefert. Die Laktat-Erhöhung stimuliert vermutlich die Glukoneogenese und damit – im Fall von Mensch und Arztpraxis – die Weißkittel-Hyperglykämie, während der Noradrenalin-Anstieg zur episodenhaften Weißkittel-Hypertonie führt.
Weißkittel-Hyperglykämie: erstmalig beschrieben 1992, letztmalig erwähnt 1994
Vermutlich kennen Sie solche Fälle auch aus eigener Anschauung. Der Anteil der Sprechstunden-Hypertoniker in der Bevölkerung wird ja immerhin auf 25-40% geschätzt. Zur Weißkittel-Hyperglykämie sind dagegen keine Einschätzungen bekannt. Das Phänomen wurde gar seit 1994 nicht mehr in der Literatur erwähnt. Die Editorial-Autoren vermuten deshalb, dass es in Vergessenheit geraten ist.
Fazit für die Praxis: Auch im neuen Jahr sollten Sie sich für Ihre Diagnose- und Therapieentscheidungen nicht nur auf Blutdruck- und Blutzuckermessungen verlassen, die in der Praxis durchgeführt wurden. Verlässlicher sind (korrekte) Eigenmessungen des Patienten zuhause bzw. die Blutdruck-Langzeitmessung und der HbA1c-Wert. Übrigens bleibt auch der Fructosamin-Spiegel im Kapillarserum vom Weißkitteleffekt unbeeindruckt und eignet sich damit als alternativer Glukose-Marker unter Praxis- bzw. Klinikbedingungen.
Aktuelle Expertenbeiträge zu diesem Thema lesen Sie jede Woche neu im esanum Diabetes Blog.
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