„Fortschritt“ bedeutet für nicht wenige Diabetes-Patienten ganz konkret, dass sie mit ihren Füßen weiterhin oder wieder laufen können. Ein wunder Punkt, der Missstände im Versorgungssystem offenlegt.
Wir waren bei den „Fortschritten für unsere Patienten“. Da spannt sich ein weiter Bogen von „Gemeinsam für eine Zukunft ohne Diabetes“, wie kürzlich die Vorstellung des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung in einem Beitrag1 überschrieben war, bis hin zu ganz bodenständigen, alltäglichen Problemen: chronische Wundheilungsstörungen. An die denkt ein Kommentator unseres letzten Beitrags "Was heißt für Sie "Fortschritt für unsere Patienten"?" und führt ein eigenes Praxisbeispiel für sprichwörtliche „Fortschritte“ an: Erst durch eine Lappenplastik am Unterschenkel konnte ein Patient wieder in seine Schuhe und ins Laufen gebracht werden.
Eine interdisziplinäre Diabetes-Versorgung, die bei Bedarf auch den Radiologen und den Plastischen Chirurgen miteinbezieht – heute eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Oder? Der Kommentar des Kollegen klingt anders: „Wenn sie [die zahlreichen Patienten mit großflächigen chronischen Wundheilungsstörungen] Glück haben, bringt sie irgendwer auf die Idee, sich mit einer nicht heilenden Wunde bei einem kompetenten Plastischen Chirurgen vorzustellen …“.
Wir möchten den Einzelfall nicht verallgemeinern. Zu dem Begriff „unsere Patienten“ ist aber noch zu sagen, dass jegliches Besitzdenken unangebracht ist, wenn sich die Dinge zum Besseren wandeln sollen. Das betrifft vor allem auch die leider immer noch virulente Frage, welchem Sektor und welcher Arztgruppe der jeweilige Patient „gehört“. Das gemeinsame Ziel in der Gesundheitsversorgung kann ja nur lauten: mehr Gesundheit für die zu versorgenden Menschen. Und jeder Akteur trägt gemäß seiner Kompetenzen seinen Teil dazu bei.
Ob das in der Praxis klappt, hängt in erster Linie an der Haltung der Akteure. Denn die Politik möchte zwar immer gerne mitmischen und steuern. Im Praxisalltag gilt aber immer noch: Die Politik denkt, der Arzt lenkt. Deshalb klappt es mit der interdisziplinären und intersektoralen Kooperation häufig gut, aber leider auch noch zu häufig nicht so gut. Eine entscheidende Rolle spielt dabei natürlich das Geld und wofür es fließt.
„Jeder geheilte Patient ist ein verlorener Kunde“ – so beginnt der Text einer Einladungsmail zu einem Symposium beim diesjährigen Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit, die gerade bei uns eintrudelte. Und weiter: „… heißt es immer wieder in Sozialen Medien und der Blogosphäre. Diese Sichtweise verbreitet sich unaufhaltsam weiter, weil sie so logisch klingt. Denn sie hat ja vielleicht einen wahren Kern: Pharmaindustrie, Ärzte und andere Leistungserbringer werden nicht dafür bezahlt, dass Patienten geheilt werden – sondern für den Absatz von Arzneipackungen oder einzelne Leistungen – und das in der Regel unabhängig davon, ob sie sinnvoll verordnet wurden und im Einzelfall auch wirken.“
Ja, das Geld folgt in unserem Gesundheitssystem bestenfalls der Leistung, aber nicht dem wünschenswerten Ergebnis – einer geheilten oder gar vermiedenen Erkrankung. Kann und sollte man das ändern?
„In der Schweiz, den USA und Großbritannien versucht man bereits seit einiger Zeit, diesen ökonomischen Fehlanreiz zu unterbinden. Die Idee nennt sich ‚Capitation‘: Im Voraus wird Leistungserbringern für ein Jahr oder länger eine Pro-Kopf-Pauschale je Versichertem oder je Patienten bezahlt, die an eine Wartungspauschale erinnert. Der Anreiz: Je gesünder der Patient bleibt, desto mehr Gewinn verbleibt von der Pauschale. Belohnt werden also gesunde Patienten. Es gäbe beispielsweise einen starken ökonomischen Anreiz, Diabetiker möglichst gut auf Insulin einzustellen, damit es nicht zu kostenträchtigen Komplikationen und schlimmstenfalls zu Amputationen kommt.“
Auf das Insulin und seinen heutigen Stellenwert im Diabetes-Management werden wir an anderer Stelle noch zu sprechen kommen, wenn es um die pharmakotherapeutischen Fortschritte geht. Inakzeptabel erscheint die immer noch sehr hohe Zahl von etwa 50.000 Amputationen, die jedes Jahr bei Diabetes-Patienten in Deutschland vorgenommen werden. Der Großteil von ihnen wäre vermeidbar, u.a. durch bessere und besser gehandhabte Versorgungsstrukturen. Jährlich entwickeln rund 250.000 Patienten ein diabetisches Fußsyndrom2.
Skandalverdächtig ist (bekanntermaßen?) die Finanzierungsgrundlage im Krankenhaus: Der Past Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft, PD Dr. Erhard Siegel, wies kürzlich bei einer Pressekonferenz darauf hin: Die im Vergleich zur Amputation unrentable Erlössituation der konservativen Behandlung provoziert Entscheidungskonflikte im „Unternehmen Krankenhaus“.
Also doch Capitation als zukunftsweisendes Finanzierungsmodell? Dazu nochmal ein Zitat aus der Einladung zum Hauptstadtkongress-Symposium:
„In der Schweiz haben Studien belegt, dass Capitation einen effizienteren Umgang mit den Ressourcen des Gesundheitswesens zur Folge hat. Es liegt in der Natur der Sache, dass es auch einen Anreiz zur verbesserten Zusammenarbeit der Akteure gibt und Integrierte Versorgung gefördert wird. Capitation könnte daher auch einen Beitrag zur Überwindung der sektoralen Spaltung des deutschen Gesundheitssystems leisten. Und auch Pharma- und Medtechindustrie könnten in Systempartnerschaften einbezogen werden.“
Denkbar ist das und mehr Bewegung und Flexibilität in Finanzierungsfragen täte unserem Versorgungssystem und den darin Beschäftigten, denen es wirklich um die Gesundheit „ihrer“ Patienten geht, sicher gut.
Optimistischer Ausblick: Der Fortschritt lässt sich auf Dauer nicht aufhalten, auch nicht der hin zu einer besser integrierten, ganzheitlicheren Versorgung. In diversen Initiativen und Projekten wird er bereits gelebt. Beispiele dazu werden immer wieder beschrieben. Die Autoren eines Beitrags zum Diabetesmodell Ahaus2 etwa resümieren nach mehr als dreijähriger Tätigkeit u.a.: „Von Kooperationen und Zusammenarbeit (…) profitieren Patienten hinsichtlich zügiger Prozesse und verlässlicher Umsetzung leitliniengerechter Therapien (wie etwa zeitaufwendige Behandlung mit Entlastung, Antibiose, Perfusionsverbesserung vor zügiger Amputation).“
Was ist dabei besonders wichtig? Die Kommunikation: „Bei so vielen Kooperationen und gewünschter Zusammenarbeit zwischen den ärztlichen und nichtärztlichen Leistungserbringern in der Versorgung von Patienten mit Diabetes mellitus müssen intensive und nachhaltige Formen der Kommunikation geschaffen werden, ansonsten bleibt es ein Neben-, statt ein Miteinander.“
Aktuelle Expertenbeiträge zu diesem Thema lesen Sie jede Woche neu im esanum Diabetes Blog.
Referenzen:
1. Das Deutsche Zentrum für Diabetesforschung stellt sich vor: Gemeinsam für eine Zukunft ohne Diabetes. Info Diabetologie 2017;11(2):55.
2. Lobmann R et al. Diabetischer Fuß. Der Diabetologe 2017;13(1):8-13.
3. Kersken J, Lederle M. Diabetesbehandlung in Deutschland. Der Diabetologe 2017;13(1):20-8.