Wenn ich mir die vielfältigen Aufgaben, Probleme, bis hin zu den Krisen betrachte, vor denen wir aktuell stehen, bin ich überzeugt, dass wir Medizin im Großen denken müssen: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um globale Gesundheit. All diese Dinge, mit denen die Welt sich beschäftigt, haben natürlich auch eine nationale, eine regionale und auch eine lokale Bedeutung. Wir sehen Schnittstellenprobleme in der Versorgung von Patientinnen, wir haben Probleme, den Patientinnen multimodale Konzepte in adäquater Weise anzubieten. Wir sehen Probleme bei Medikamentenlieferungen. Wir werben medizinisches Personal im Ausland an. Die Diskussion, dass Klimaveränderungen Krankheiten verursachen, wächst. Da geht es nicht nur um Erderwärmung, sondern auch um Lautstärke, um Umweltgifte und Lebensstile. Menschen bewegen sich immer weniger, sie nehmen immer mehr zu. Wir haben zudem immer mehr Menschen, die auf Grund von Kriegen und Krisen in Deutschland leben und behandelt werden müssen.
Das alles sind globale Themen, die auch in einer Praxis oder einer Klinik Wirkung entfalten. Wir können nicht mehr im alten, gewohnten Mikrokosmos agieren, auch was Sprache und interkulturelle Kompetenz betrifft. Wir haben auch in Deutschland eine Verantwortung dafür, unsere Aktivitäten, die wir nach außen umsetzen, besser zu koordinieren - um beispielsweise Auslandshilfe zu stärken und zu bündeln und wir müssen uns zugleich fragen, wie wir in unserem Umfeld Menschen, die benachteiligt sind, besseren Zugang zum Gesundheitswesen eröffnen.
Gesundheit ist ja bekanntermaßen körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden, ja, das ist die Definition von Gesundheit (WHO). Und das gilt auf der ganzen Welt. Das ist tatsächlich nur mit dem Begriff globale Gesundheit zusammenzufassen.
Das klingt jetzt so riesig, so komplex, so vielfältig, dass man davor kapitulieren könnte. Aber so sehe ich das nicht. Der erste Schritt ist zunächst einmal, die Themen wahrzunehmen und die Zusammenhänge zu erkennen und sie darzustellen. Globale Gesundheit fokussiert eben nicht nur auf Pandemien. Sie ist vielschichtig und in allen Bereichen der Gesundheit präsent.
Betrachten wir die Kernbereiche - keiner ist von globaler Gesundheit unberührt. Wir müssen, wie gesagt, medizinisches Personal aus dem Ausland anwerben, wir brauchen Ihre Unterstützung. Aber wie schaffen wir es, die Qualifikationen langfristig zu verbessern, ihre Arbeit besser wertzuschätzen, was können wir für die Länder tun, aus denen wir Menschen für Pflege und viele andere Bereiche anwerben? Sodass wir auch dort Strukturen im Gesundheitssystem langfristig stärken. Prävention, Fehlernährung, Änderung der Lebensstile - jedes dieser Themen hat seine globalen Aspekte. Daher ist es wichtig, das Thema globale Gesundheit aus dem Schatten der Wahrnehmung herauszuholen.
Erstmal ist das ein Denkschritt und eine Haltungsänderung. Es ist immer schwierig, ein Thema zu öffnen, welches zunächst schwer fassbar ist, wo wir keine schnellen Lösungen kennen. Ich denke aber, wir müssen dennoch diese komplexen, aber so wichtigen Themen diskutieren.
Das heißt auch: nicht nur beklagen, dass wir eine Medikamentenknappheit haben, sondern die Frage stellen: Warum sind wir abhängig von Medikamenten, die im Ausland produziert werden? Und wie gehen wir damit um, dass der Forschungsstandort Deutschland kaum eigene Medikamente selbst entwickelt, sondern die meisten neuen Medikamente beispielsweise in Asien und anderen Kontinenten entwickelt werden? Hierbei geht es mir nicht um ein Wettrennen, sondern darum, dass wir das Potential und unsere Ressourcen nicht ausreichend nutzen. Und wie könnte man das eventuell mittelfristig ändern? Wenn ich mehr für meine Patientinnen tun möchte, dann beginnt das auch damit, Dinge zu benennen, die nicht so gut laufen. Beim Forschungsstandort Deutschland gehört beispielsweise dazu, dass viele behördliche Wege und Vorgaben Forschung verlangsamen. Ob Datenschutz oder lange Behördengänge - viele Innovationen schaffen diese Barrieren nicht. Die forschende Industrie weicht zunehmend in andere Länder aus, weil dort die Prozesse schneller sind. So sind wir im europäischen und im globalen Konkurrenzkampf nicht mehr vorne. Wir spielen nicht mehr in der oberen Liga mit. Die Strukturen und Rahmenbedingungen sind einfach nicht gut.
All diese umfassenden Themen kommen unmittelbar im Medizinalltag an.
So wird vor der nächsten Grippewelle bei Kindern gewarnt - weil es auch da nicht genug Medikamente gibt. Wir haben etwa 500 Medikamente, bei denen es laut Bundesärztekammer kurz- und mittelfristig Engpässe gibt. Das sind inzwischen chronische Probleme - genau wie die Themen Pflege und medizinisches Personal.
Das ist nicht in den nächsten zwei bis fünf Jahren gelöst. Also bleibt die Frage: Was tun wir für die Kooperation? Wie sichern wir nachhaltige Strukturen? Wie können wir die Ausbildungscurricula für die Gesundheitsberufe in den verschiedenen Ländern verändern?
Fazit: Ohne den Gedanken an die globale Gesundheit werden wir nachhaltige Strukturen nicht entwickeln können. Insellösungen und Löcherstopfen werden uns nicht nachhaltig voranbringen. Wir müssen endlich Gesundheit in einer großen Matrix denken. Da sehe ich natürlich die Politik in Verantwortung, aber auch jeder von uns im Gesundheitssystem ist ein Willens- und Funktionsträger. Es geht nur im Schulterschluss von Politik, Krankenkassen, Krankenhausträgern, Ärztekammern, Pflegeverbänden - da muss eine Allianz ausgerufen werden. Wenn es in der Autoindustrie kriselt, gibt es einen Autogipfel. Aber wir haben jeden Tag ein Krankenhaussterben, wir haben jeden Tag ein Praxissterben, auch weil die Personalstruktur nicht gesichert werden kann. Wir brauchen große Reformen - nicht nur einen Auto- und einen Klimagipfel, sondern auch einen kontinuierlichen globalen Gesundheitsgipfel!
Mehr von Prof. Sehouli im Podcast WeissBunt.