Anhand von Daten von über 10 Mio. US-Soldaten, die über einen Zeitraum von 20 Jahren beobachtet wurden, stellten Wissenschaftler der Harvard Universität fest, dass eine EBV-Infektion das Risiko einer späteren Multiplen Sklerose 32-fach erhöht und der Entwicklung der Krankheit vorausgeht.1 Von den 801 Veteranen, die im Laufe des Beobachtungszeitraums eine MS entwickelten, war nur ein einziger bei Diagnosestellung seronegativ. Infektionen mit anderen Viren, einschließlich des ähnlich übertragenen Cytomegalievirus, beeinflussten das MS-Risiko nicht. Dies steht im Einklang mit Ergebnissen früherer Analysen, die bei ∼99,5 Prozent der MS-Patienten (im Vergleich zu ∼94 Prozent der gesunden Personen) erhöhte Serumantikörper gegen EBV fanden.2
"Wenn Sie nicht mit EBV infiziert sind, ist Ihr Risiko, an MS zu erkranken, praktisch Null", sagt Alberto Ascherio, Professor für Epidemiologie und Ernährung an der Harvard Universität und einer der Hauptautoren der Studie, die in der 'Science' erschien. "Nach einer Infektion steigt das Risiko um das 32-fache an". Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Anstieg zufällig auftritt, liegt bei weniger als eins zu einer Million.3
Der Serumspiegel der Neurofilament-Leichtketten, eines Biomarkers für neuroaxonale Degeneration, stieg nur nach einer EBV-Serokonversion an. Diese Ergebnisse sind durch keinen anderen bekannten Risikofaktor für MS erklärbar.
Dies gehört zur bisher stärksten Evidenz dafür, dass EBV MS auslöst, aber erklärt noch nicht, warum. Nur eine Woche später erschien jedoch in der 'Nature' eine Arbeit aus Stanford, die in drei unabhängigen MS-Kohorten bei etwa 20 bis 25 Prozent der Patienten Antikörper im Blut entdeckte, welche sowohl hochaffin an ein Protein des Epstein-Barr-Virus (EBNA1) als auch an ein im Gehirn und Rückenmark gebildetes Protein (Glial Cell Adhesion Molecule, GlialCAM) binden.4,5
"Ein Teil des EBV-Proteins gleicht dem eigenen Wirtsprotein – in diesem Fall GlialCAM, das in der isolierenden Nervenscheide vorkommt", fasst Dr. William Robinson, PhD, Professor für Immunologie und Rheumatologie in Stanford, zusammen. "Das bedeutet, dass das Immunsystem, wenn es EBV angreift, um das Virus zu beseitigen, am Ende auch GlialCAM im Myelin angreift."4 Die davon unabhängige Forschergruppe in Harvard identifizierte übrigens dieselbe EBNA1-Region als ein wichtiges Antikörperziel bei MS-Patienten.
Wie bei anderen Herpesviren auch, persistiert das Virus bei Menschen, die sich einmal infiziert haben und lagert seine DNA gemeinsam mit der des Wirtes in den Kernen vieler Zellen ab. Es wird für den Rest unseres Lebens in unserem Speichel ausgeschieden (im Unterschied dazu können RNA-Viren, wie z. B. SARS-CoV-2, aus dem Körper eliminiert werden).6
Der Durchseuchungsgrad der Bevölkerung mit EBV wird auf über 90 Prozent geschätzt, viele Infizierte wissen jedoch nichts von ihrem Status. Genau diese Omnipräsenz erschwerte es, EBV als kausalen Faktor zu isolieren. Dass so viele Menschen das Virus latent in sich tragen und dennoch nur ein Teil von ihnen an MS erkrankt, unterstreicht, dass weitere Faktoren eine Rolle spielen. Statt also von EBV als Ursache für MS zu sprechen, wäre es vielleicht zutreffender, das Virus als führende Voraussetzung im Sinne einer "two hit"-Hypothese zu verstehen.6
Den Daten der Stanford-Arbeit zufolge ließe sich etwa ein Viertel der MS-Fälle durch EBV erklären. Das Interesse daran, dies einer präventiven oder therapeutischen Nutzung zugänglich zu machen, ist groß. Doch Erstautor Dr. Tobias V. Lanz warnt beispielsweise vor der zu vereinfachten Vorstellung, MS ließe sich durch eine Impfung eradizieren. Diese Forschung zeigt eindrücklich, warum die Hersteller bei der Auswahl der Antigene, die sie in einen EBV-Impfstoff aufnehmen, besonders vorsichtig sein müssen. "Man sollte keine Antigene wie EBNA1 wählen, die eine Autoimmunität auslösen könnten", betont Lanz. In weiteren Versuchsreihen stellten die Wissenschaftler fest, dass eine EBNA1-Immunisierung die MS in einem Mausmodell verschlimmerte. Die Tiere wiesen im Vergleich zu Mäusen, denen ein Kontrollproteinfragment injiziert wurde, schwerere Lähmungen, mehr Immunzellen, die in ihr zentrales Nervensystem eindrangen und eine stärkere Schädigung der Myelinscheiden auf. Für Laborleiter Robinson ist dies ein weiteres Puzzlesteinchen. "Wenn man eine Maus mit einem bestimmten Antigen immunisiert und sich die Paresen dadurch verschlimmern, deutet dies darauf hin, dass eine Immunreaktion gegen dieses Ziel zur Pathogenese von MS beitragen kann."4
Ein EBV-Impfstoff würde außerdem den Patienten, die bereits eine EBNA1/GlialCAM-Kreuzreaktivität entwickelt haben, nicht unbedingt helfen. Für sie könnte eine bessere Option darin bestehen, das Immunsystem toleranter zu machen, sodass es nicht mehr auf GlialCAM reagiert.
Die Entdeckung, wie genau EBV MS auslöst, könnte auch für die Erforschung anderer Autoimmunkrankheiten wie Lupus und rheumatoider Arthritis bedeutsam sein, die wie die MS in epidemiologischen Studien deutlich mit EBV-Infektionen verknüpft waren.4
Referenzen:
1. Bjornevik, K. et al. Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis. Science 375, 296–301 (2022).
2. Ascherio, A. & Munger, K. L. Environmental risk factors for multiple sclerosis. Part I: the role of infection. Ann Neurol 61, 288–299 (2007).
3. The Strange Connection Between Mono and M.S. DNyuz (2022).
4. Study identifies how Epstein-Barr virus triggers multiple sclerosis. Stanford News Center
5. Lanz, T. V. et al. Clonally expanded B cells in multiple sclerosis bind EBV EBNA1 and GlialCAM. Nature 603, 321–327 (2022).
6. NYT Magazine: Epstein Barr Virus and Multiple Sclerosis | The ME Association (2022).