Lässt Einsamkeit das Gehirn schrumpfen?

Chronischer Stress und Überlastung wirken sich nachteilig auf unsere kognitive Leistungsfähigkeit aus. Laut einer aktuellen Publikation von Weltraum-Forschern im 'New England Journal of Medicine' könnten soziale Isolation und Reizarmut ähnliche Folgen haben.

Chronischer Stress und Überlastung wirken sich nachteilig auf unsere kognitive Leistungsfähigkeit aus. Laut einer aktuellen Publikation von Weltraum-Forschern im 'New England Journal of Medicine' könnten soziale Isolation und Reizarmut ähnliche Folgen haben.

Prof. Alexander Stahn erforscht seit Jahren am Center for Space Medicine and Extreme Environments der Charité die Auswirkungen von externen Stressoren (wie sozialer Abgeschiedenheit) auf Hirnveränderungen, kognitive Leistung und mentales Wohlbefinden. Neben verschiedenen längerfristigen Projekten mit der International Space Station (ISS) zur hippocampalen Plastizität und Kognition untersuchte er bspw. auch Wissenschaftler bei Langzeitaufenthalten in der Forschungsstation 'Neumayer III' in der Antarktis.1
In einer kürzlich im New England Journal of Medicine publizierten Arbeit berichten Stahn und Kollegen darüber, was sich über 14 Monate Isolation hinweg im Gehirn von Polarforschern veränderte.2–4

Gedächtniszentrale scheint besonders vulnerabel auf Mangel an sozialen Interaktionen und Reiz-Input zu reagieren

Zuvor war nur anhand von Tierstudien gezeigt, dass monotone Umgebungen und soziale Deprivation dem Gehirn zusetzen. Prolongierte Isolation beeinträchtigt die neuronale Plastizität. Insbesondere im Gyrus dentatus des Hippocampus wurde im Zusammenhang mit Vereinsamung eine verminderte Neurogenese beobachtet.
Der Gyrus dentatus gilt als Tor zum Hippocampus und zum Gedächtnis und ist immens wichtig für die Verarbeitung von Emotionen und das Lernen. Je emotionaler ein Ereignis, desto schneller wird es vom Arbeits- ins Langzeitgedächtnis überführt. So konsolidierte Informationen können lebenslang abgerufen werden. Wird der Prozess der Langzeitpotenzierung unterbrochen, werden die Informationen nicht oder nur unvollständig im Langzeitgedächtnis gespeichert. Die Funktion des Hippocampus ist damit essenziell für alle langfristigen Gedächtnisinhalte – sei es das Wissen über Fakten und Ereignisse, räumliche Gegebenheiten, erlerntes Wissen oder Gewohnheiten und Handlungen (wie das Binden der Schnürsenkel).5

Messbare Gehirnveränderungen nach langen Antarktisexpeditionen

Stahn und Kollegen untersuchten neun Wissenschaftler, die für 14 Monate auf der deutschen 'Neumayer III'-Station lebten. Bei acht von ihnen konnte vor und nach Expedition eine Ultra-Hochfeld-MRT durchgeführt werden. Diese zeigte eine Volumenabnahme des Gyrus dentatus bei jedem von ihnen zwischen 4–10%, was bei gematchten Kontrollen, die Zuhause geblieben waren, nicht zu beobachten war. Auch andere Regionen des Hippocampus verzeichneten kleine Einbußen, auch wenn diese Veränderungen keine statistische Signifikanz erreichten. Weitere Bereiche außerhalb des Hippocampus waren ebenfalls von einer Abnahme der grauen Substanz betroffen (linker parahippocampaler Gyrus, rechter dorsolateraler präfrontaler Kortex, linker orbitofrontaler Kortex, jeweils 3–4%).

Bei den neun Südpol-"Exilanten" waren zudem schon nach dem ersten Viertel der Zeit um durchschnittlich 45% gesunkene Spiegel von BDNF (Brain-derived neurotrophic factor) nachweisbar. Die Werte hatten sich auch 1,5 Monate nach Heimkehr noch nicht erholt.
BDNF ist ein sehr potentes Neurotrophin, welches mit den Nervenwachstumsfaktoren verwandt ist und für Überleben, Funktion und Plastizität von Neuronen und Synapsen und insbesondere die adulte Neurogenese wichtig ist. Störungen der BDNF‑Level sind mit verschiedensten Krankheiten assoziiert, darunter Depressionen, Demenz, Zwangsstörungen und Schizophrenie.6 Erniedrigte BDNF‑Konzentrationen waren mit Volumenabnahme des Gyrus dentatus assoziiert. Teilnehmer mit größeren Volumenverlusten im Gyrus dentatus schnitten auch bei Tests zu räumlicher Verarbeitung und selektiver Aufmerksamkeit schlechter ab als vor der Expedition.

Prävention des kognitiven Abbaus vielleicht einfacher als gedacht?

Natürlich ist weitere Forschung vonnöten, da hier nur wenige, ausgewählte Personen untersucht werden konnten und weitere, in dieser Studie nicht erfasste oder nicht ausgewertete Faktoren für die Hirnveränderungen eine Rolle spielen könnten (künstliche Umgebung, monatelange Dunkelheit etc.). Wenn auf die Allgemeinbevölkerung übertragbare Erkenntnisse gewonnen werden können, würde dies auch interessante präventive Ansätze eröffnen. Stahn und sein Team wollen als nächstes untersuchen, ob das Gehirn durch spezifische Trainingsprogramme (Sport, mentale Beschäftigung) vor Volumenabbau in Extremsituationen geschützt werden könnte. Aus Tiermodellen ist u. a. bekannt, dass die das Gehirn gesund erhaltenden BDNF‑Spiegel mit körperlicher Aktivität und Kalorienrestriktion ansteigen.6

Referenzen:
1. Alexander C. Stahn | Charité in Space – The Center for Space Medicine Berlin (ZWMB). http://charite-in-space.de/stahn/.
2. Müller-Jung, J. Erosionen im Hippocampus: Wie chronischer Stress unserem Gehirn zusetzt. FAZ.NET https://www.faz.net/1.6539321.
3. Stahn, A. C. et al. Brain Changes in Response to Long Antarctic Expeditions. New England Journal of Medicine 381, 2273–2275 (2019).
4. December 05, N. L.-S. W. & 2019. Lonely Antarctic Expeditions Shrink People’s Brains. livescience.com https://www.livescience.com/antarctic-expedition-changes-the-brain.html.
5. Gyrus dentatus - Aufbau, Funktion & Krankheiten | MedLexi.de. https://medlexi.de/Gyrus_dentatus.
6. Weinstein, G. et al. Serum Brain-Derived Neurotrophic Factor and the Risk for Dementia: The Framingham Heart Study. JAMA Neurol 71, 55–61 (2014).