Die Vorstellung, höhere Dosierungen gingen zwangsläufig mit größerer Wirksamkeit einher, war bei der Entwicklung zytotoxischer Wirkstoffe lange allgegenwärtig. Neue Medikamente mit anderen Wirkmechanismen und Sicherheitsprofilen oder potenziell langfristiger Anwendung erfordern eine Überprüfung der bisherigen Praxis.
Während in vielen anderen Bereichen die geringste wirksame Dosis eines Medikamentes gewählt wird, hält sich in der Entwicklung onkologischer Therapien noch zu großen Teilen die gegenteilige Praxis, nämlich die höchste verträgliche Dosis einzusetzen.
Vier Autoren von der amerikanischen Arzneimittelbehörde (FDA) sprechen sich in einem Beitrag im 'New England Journal of Medicine' für eine Änderung dieser Vorgehensweise aus.
"Es ist nicht unüblich, dass die Dosierung und das Dosierungsschema von Krebsmedikamenten unzureichend untersucht sind, bevor die Sponsoren die Zulassungsstudien einleiten. [...] Häufig werden kleine Patientenkohorten für die Verabreichung ansteigender Dosen eingeteilt und einen Behandlungszyklus lang auf schwere oder lebensbedrohliche dosislimitierende toxische Wirkungen getestet, um die maximal verträgliche Dosis zu ermitteln. Wir sind der Meinung, dass diese Praxis für zielgerichtete Medikamente und biologische Therapien überdacht werden sollte."1,2
Eingangs illustrieren sie dies am ersten KRAS-Inhibitor Sotorasib. Der Mangel an soliden Dosisstudien während der Wirkstoffentwicklung veranlasste die FDA dazu, Post-Marketing-Studien zur Evaluation niedrigerer Dosen nachzufordern. Patienten, die mit niedrigeren Dosen behandelt wurden, zeigten vergleichbare Medikamentenspiegel im Körper, Zielsättigungen und Tumoransprechraten wie Patienten unter der im Rahmen der Zulassungsstudie verwendeten Dosis.
Sie führen noch weitere Beispiele für Substanzen auf, deren Dosierungen oder Zeitpläne nach der Zulassung aus Sicherheits- oder Verträglichkeitsgründen geändert wurden, so die "small molecules" Ceritinib (zur Reduzierung gastrointestinaler UAWs), Dasatinib (um hämatologische Toxizitäten und Flüssigkeitsretention zu mindern), Niraparib (um das Thrombopenierisiko zu senken), Ponatinib (um Gefäßverschlüsse zu reduzieren), Cabazitaxel (um hämatologische UAWs und Infektionen zu verringern) oder das Antikörper-Wirkstoff-Konjugat Gemtuzumab ozogamicin (zur Senkung des VOD-Risikos und der therapiebedingten Mortalität).
Über ein anderes bekanntes Beispiel hatten wir in der Vergangenheit ebenfalls berichtet: Trastuzumab, bei dem sich 13 Jahre nach Zulassung herausstellte, dass eine Behandlungsdauer von 6 (anstelle von 12 Monaten, dem Standard bis dahin) genauso effektiv hinsichtlich des krankheitsfreien Überlebens ist und die Rate schwerer kardialer Nebenwirkungen halbiert.
Fragen, die schwer im Magen liegen
Die benötigte Dosis und somit die Nebenwirkungen und Kosten ließen sich noch über einen weiteren Ansatz senken, ohne dass die Wirksamkeit leidet.
Ihr Arzt verschreibt Ihnen ein Medikament und der Apotheker weist darauf hin, dass es unbedingt auf nüchternen Magen zu nehmen ist. Was denken Sie, würde passieren, wenn Sie es mit einer Mahlzeit zusammen einnehmen? Eine solche Testfrage stellt Prof. Mark J. Ratain oft. Er ist Onkologe und Pharmakologe an der Universität Chicago sowie Leiter des Zentrums für personalisierte Therapien. Die richtige Antwort hört er selten: Sie können an einer Überdosierung sterben.3
Während noch eine Dekade zuvor die Mehrheit der Tumortherapien für eine Einnahme zu den Mahlzeiten zugelassen war4, werden modernere, orale Krebsmedikamente regelhaft auf leeren Magen verabreicht, beispielsweise Nilotinib, eine hocheffektive CML-Therapie. Laut Black-box-Warnung darf zwei Stunden vor und eine Stunde nach jeder Dosis nichts gegessen werden. Eine fettreiche Mahlzeit treibt den aktiven Bestandteil des Medikamentes im Blut in die Höhe und kann eine tödliche Überdosis verursachen. Ratain hält das Dosierungsschema für praxisfern, denn die meisten Patienten müssen es über Jahre hinweg zweimal täglich einnehmen.
Es gibt Daten, die dafür sprechen, dass niedrigere Dosierungen, teils mit gleichzeitiger Einnahme einer Mahlzeit, eine genauso effektive, aber kosten- und nebenwirkungsärmere Option darstellen könnten.
Im 2. Teil werden wir kommende Woche mit weiteren Stimmen zum Thema sowie einigen Beispielen hierzu fortsetzen.
Referenzen:
1. Shah, M., Rahman, A., Theoret, M. R. & Pazdur, R. The Drug-Dosing Conundrum in Oncology — When Less Is More. New England Journal of Medicine 385, 1445–1447 (2021).
2. FDA Perspective on Drug-Dosing in Oncology: From ‘More Is Better’ to ‘Less Can Be More’. https://ascopost.com/news/october-2021/fda-perspective-on-drug-dosing-in-oncology-from-more-is-better-to-less-can-be-more/.
3. Experts Push for New Cancer Drug Dosing Recommendations. Undark Magazine https://undark.org/2020/12/09/cancer-drugs-less-might-be-more/ (2020).
4. Kang, S. P. & Ratain, M. J. Inconsistent labeling of food effect for oral agents across therapeutic areas: differences between oncology and non-oncology products. Clin Cancer Res 16, 4446–4451 (2010).
5. Ratain, M. J. & Cohen, E. E. The Value Meal: How to Save $1,700 Per Month or More on Lapatinib. JCO 25, 3397–3398 (2007).