Zuweilen schwieriger zu behandeln als die Grunderkrankung: Opioid-Abusus bei Krebsüberlebenden. Einige Gedanken und ein Fallbericht eines Onkologen.
Terminal kranke Patienten stellen eine wichtige Indikationsgruppe für den Einsatz potenter Opioide dar. Doch was ist mit der immer größer werdenden Anzahl von Patienten, die ihre Erkrankung überstehen? Viele davon kämpfen anschließend mit einer Substanzabhängigkeit. Oft können wir nicht wissen, welche Patienten überleben werden. Wir sehen akut Schmerz und Leid des Patienten und wollen etwas dagegen tun. Noch dazu sind wir durch Warnungen vor anderen Schmerzmitteln in den Auswahlmöglichkeiten limitiert. Wir haben vielleicht gelernt, Nichtopioidanalgetika bei Chemotherapie-Patienten zu vermeiden, bspw. weil NSAIDs ein Fieber maskieren könnten, welches zuweilen das einzige Zeichen einer lebensbedrohlichen Infektion sein kann. NSAIDs haben außerdem komplexe Auswirkungen auf Blutungs- und Gerinnungsrisiken. Paracetamol kann die Leber und NSAIDs die Nieren beeinträchtigen und da viele Chemotherapien diese Organe irreversibel schädigen können, wollen wir diese nicht zusätzlich belasten.1
Diese Einschränkungen treiben viele Behandler in eine Ecke, aus der heraus alle Schmerzen mit Opioiden behandelt werden. Für dieses Vorgehen gibt es keine Evidenz. Einst wurde uns gelehrt, dass Schmerz "das fünfte Vitalzeichen" ist und derjenige ein guter Arzt, der diesen Schmerz aggressiv angeht. Verbreitet war auch die Meinung, Patienten mit echten Schmerzen könnten nicht abhängig werden. Das ist bestenfalls fehlgeleitet und schlimmstenfalls falsch. Krebspatienten können, wie alle anderen Schmerzpatienten auch, in einen Substanzmissbrauch abrutschen. Ein Fallbericht.
Prof. Dr. Alison Wakoff Loren von der Universitätsklinik Pennsylvania, Abt. Hämatologie und Onkologie, schildert in einem Beitrag im New England Journal of Medicine1 den Fall einer 24‑jährigen CML‑Patientin, die nach allogener Stammzell-Transplantation eine akute Graft-versus-Host Erkrankung (GVHD) des Gastrointestinaltraktes sowie eine chronische GVHD an Haut, Bindegewebe und Gelenken entwickelte. Aufgrund schwerer Schmerzen erhielt sie zunächst Morphin und Oxycodon und schließlich Hydromorphon. Zur Mitbetreuung des zunehmend komplexen Schmerzsyndroms und der gedrückten Stimmungslage erfolgten zudem Überweisungen an Psychiater und Schmerztherapie.
Bei den wöchentlichen Vorstellungen beklagte die Patientin Schläfrigkeit, Pruritus und Obstipation und ihr Partner äußerte Sorgen bezüglich ihres Hydromorphon-Gebrauchs. Die Patientin gestand schließlich ein, sich auch von ihrem Internisten Hydromorphon verschreiben zu lassen und dieses ein- bis zweistündlich einzunehmen.
Sie trafen eine gemeinsame Absprache, dass der Partner das Hydromorphon unter Verschluss halten und der Patientin in adäquaten Dosen und Intervallen ausgeben wird, dass sie sich regelmäßig beim Psychiater vorstellen und keine Rezepte über andere Ärzte besorgen wird (wessen sich die Hämatologin beim Internisten rückversicherte).
Doch die Probleme köchelten weiter. Obwohl die Schmerzen unter Immunsuppression gelindert werden konnten, bestand die Patientin darauf, nicht mit niedrigeren Opioid-Dosen auszukommen. Sie manipulierte das Behandlungsteam, kam zu Terminen zu spät, mied die Schmerztherapie-Spezialisten und löste alte Benzodiazepin-Rezepte erneut ein (in den USA können einmal verschriebene Medikamente unter bestimmten Voraussetzungen ohne Folgerezept in der Apotheke "verlängert" oder mehrfach benutzt werden). Die Patientin gab schließlich den Substanzmissbrauch zu und erklärte sich mit einer stationären Behandlung einverstanden.
Doch es war so gut wie unmöglich, einen stationären Rehabilitationsplatz zu finden, der bezahlbar war oder von der Versicherung übernommen würde. Als die Ärztin endlich eine Einrichtung fand, die ihre Versicherung akzeptierte, lehnte diese die Patientin aufgrund ihrer medizinischen Vorgeschichte ab – "wir können sie hier nicht behandeln, sie ist zu kompliziert" hieß es.
Während Ärztin und Partner nach einem ambulanten Therapieplatz suchten, musste die Patientin aufgrund einer Bakteriämie ins Krankenhaus. Der Keim, Pseudomonas oryzihabitans, der in erster Linie im Leitungswasser vorkommt, lenkte den Verdacht der Ärztin darauf, dass die Patientin Hydromorphon-Tabletten zerkleinerte und auflöste, um diese in ihren zentralen Katheter zu injizieren, der daraufhin sofort entfernt wurde.
Auch danach konnte die Patientin nach Aussagen ihres Partners kaum wach bleiben und er fand überall im Haus Verstecke mit Hydromorphon. Sie weigerte sich, zwecks Alternativen wie einer Methadon-Therapie einen Spezialisten aufzusuchen. Auf Anraten der Schmerzmediziner stellte die Hämatologin eine letzte Opioid-Dosis zum Ausschleichen zur Verfügung.
Im Folgemonat war die Patientin erneut andernorts hospitalisiert, febril mit Hautabszessen. Sie behauptete, dass diese von Kratzern durch den Hund stammten, doch die Ärztin war besorgt, dass es Infektionen durch das Spritzen von Drogen unter die Haut ("skin popping") sein könnten – eine gängige Praxis unter Abhängigen, wenn die Venenverhältnisse schlecht sind, wie bei dieser Patientin. Sie setzte die Ärzte des anderen Krankenhauses über die Vorgeschichte in Kenntnis und warnte, ihren intravenösen Zugang streng zu überwachen.
Einige Tage später wurde die Patientin tot in ihrem Klinikbett aufgefunden. Ihre Leukämie war in Remission. "Die Möglichkeit, dass die Patientin sich überdosiert haben könnte, lässt mich nicht los", schließt die Hämatologin ihren Bericht.
Allein in den USA starben im Jahr 2017 über 70 Tsd. Menschen an Medikamentenüberdosierung. Mit Ausnahme von Lungenkrebs verursacht keine Tumorart allein solche Zahlen. Mehr als die Hälfte dieser Todesfälle (47.600) standen in Zusammenhang mit Opioiden.2 Über 17 Tsd. davon entfielen auf ärztlich verordnete Opioide. Dies stellt im Vergleich zu 1999 eine Verfünffachung dar (3.442).
"Wir behandeln erst einmal den Schmerz und machen uns später Gedanken über die Konsequenzen." resümiert Prof. Loren. Sie meint, dass die Verantwortung für diese Zwickmühle bei uns liegt. Viele Onkologen setzen Opioide großzügig ein, als gäbe es kein Morgen – doch für immer mehr Patienten gibt es ein Morgen. Viele davon leben mit chronischen Gesundheitsproblemen weiter, die Folgen der Tumortherapie sind, aber Opioid-Abhängigkeit sollte nicht dazu gehören.
Die Situation in Deutschland ist nicht unbedingt mit der in den USA vergleichbar. Doch das Fazit der Hämatologin ist ein universell Relevantes. Onkologen sind den Umgang mit Opioiden gewohnt, müssen sie aber auch wegnehmen können und manchmal in begrenzten Dosen verabreichen oder gar nicht. Risiken, Präventions- und Lösungsmöglichkeiten für Opioid-Abusus müssen den betreuenden Therapeuten sehr präsent sein. Im vorliegenden Fall deckte ein eigentlich strenges und genaues Prä‑Transplantationsscreening keine Risikofaktoren auf (bis auf das junge Alter). Doch zwischen Transplantation und den oben geschilderten Entwicklungen ergaben sich einige Anhaltspunkte: Depression, Wiederaufnahme des Rauchens, Funktionseinschränkungen.
Forschung zur Erweiterung unserer Nichtopioidanalgetika-Optionen bei Krebspatienten könnten zu mehr Auswahlmöglichkeiten mit niedrigerem Risiko in der Behandlung chronischer Schmerzen beitragen.
Ein sehr einsichtsreicher TEDx-Vortrag eines Arztes zur Opioid-Krise sei dem interessierten Leser abschließend noch ans Herz gelegt.
Referenzen:
1. Loren, A. W. Harder to Treat Than Leukemia — Opioid Use Disorder in Survivors of Cancer. New England Journal of Medicine 379, 2485–2487 (2018).
2. National Institute on Drug Abuse. Overdose Death Rates. (2019). Available at: https://www.drugabuse.gov/related-topics/trends-statistics/overdose-death-rates. (Accessed: 10th February 2019)