Kennen auch Sie das Problem, dass bei sehr unübersichtlichen, interdisziplinären Fällen tendenziell alle den schwarzen Peter weiter schieben?
Warum ist Zersplitterung in der Patientenversorgung häufiger als optimale Kollaboration? Mit dieser Frage beschäftigt sich eine kürzlich erschienene, dreiteilige Artikelreihe im New England Journal of Medicine.1
Die Autorin Dr. Lisa Rosenbaum, Kardiologin am Brigham and Women's Hospital in Boston und Dozentin an der Harvard Universität, meint, dass diese Fragmentierung zu einem Teil daraus entspringt, wie unser Gesundheitssystem beschaffen ist und illustriert dies mit einem Fallbericht.
Eine Patientin lag aufgrund einer kardialen Komplikation eines primären pankreatobiliären Prozesses auf ihrer Station. Die Ärzte schoben in einer endlosen Schleife gegenseitig die Verantwortung weiter: die Kardiologen überwiesen für das Management des intraabdominalen Prozesses an die Gastroenterologie. Diese verwies an die interventionelle Radiologie, die sich um den Cholezystostomie-Katheter kümmern sollte, welcher zur Drainage der infizierten Gallenblase nötig war. Und die interventionelle Radiologie wandte sich an das Primärteam, also die Kardiologie, zur Versorgung der starken Schmerzen, die die Patientin jedes Mal hatte, wenn der Katheter gespült wurde. Zusätzlich zu den körperlichen Beschwerden konnten die Ärzte sich nicht einigen, wie dem beizukommen sei – ob man den Drainagekatheter verschließen, spülen oder in Ruhe lassen sollte. Der Katheter war in einer anderen Klinik angelegt worden, daher war kein Team verantwortlich für die Nachbetreuung. Niemand verfügte über die primären Daten und Bilder, alle Informationen waren aus zweiter Hand weitergegeben. Auch die Patienten macht es nervös, wenn jeder etwas anderes erzählt. "Ihr Ärzte scheint nicht viel miteinander zu reden – ist hier eigentlich irgendwer zuständig?"
Oft sorgt Zeitmangel dafür, dass wir trotz der vielen vorhandenen, einfachen Kommunikationsmöglichkeiten zumeist als Einzelkämpfer durch den Tag gehen, selbst wenn wir gern mehr miteinander sprechen würden.
Ein aufschlussreiches Experiment untersuchte, ob Theologiestudenten auf dem Weg zu einem Vortrag anhalten würden, um einem ungepflegten Mann in einem Gang zu helfen.2 Einige waren instruiert, über theologische Berufe zu sprechen, andere mussten sich vorbereiten, die Parabel vom barmherzigen Samariter vorzutragen, der einen angeschlagenen Mann am Straßenrand unterstützt. Bemerkenswerterweise sagten weder Persönlichkeitscharakteristika (wie Grad der Religiosität), noch der Fokus auf den guten Samariter die Bereitschaft vorher, anzuhalten und zu helfen. Prädiktiv war allein der Faktor Zeit. Teilnehmern, denen gesagt wurde, dass sie zu spät dran seien, neigten wesentlich weniger dazu, stehen zu bleiben. Die Autoren schlossen daraus, dass es sich weniger um ein Charakter- als ein Kontextproblem handelt. Die Teilnehmer beeilten sich, weil andere auf ihr rechtzeitiges Erscheinen angewiesen waren. Konflikt, und nicht Gleichgültigkeit, könnte ihr Verhalten erklären.
Hyperspezialisierung soll Patienten zwar die fachkundigste Betreuung ermöglichen, doch wenn viele Ärzte auf ihr individuelles Gebiet fokussiert sind, bleiben (zu) wenige übrig, die den Patienten im Ganzen betrachten. Auch die Allgegenwärtigkeit der Schichtarbeit hat uns zu Experten im Delegieren von Aufgaben gemacht, wie der Nachkontrolle von Laborwerten oder der Ausscheidung. Doch es gibt kein Kontrollkästchen für die Weitergabe der kollektiven Überlegungen. Und die elektronische Patientenakte, die als zentrales Element der vernetzten Gesundheitsversorgung eigentlich solche Kommunikation unterstützen könnte, steckt stattdessen voller Haftungs- und Abrechnungsnotwendigkeiten. Administratoren zerlegen unsere Dokumentation dahingehend, aus welchen Formulierungen sich die größtmögliche Erstattung herausholen lässt.
Auch der sog. Bystander-Effekt scheint vor Ärzten nicht Halt zu machen: Menschen sind eher bereit, in einer Krisensituation einzugreifen, wenn niemand anderes da ist. Gibt es noch weitere Beobachter, kommt es zu einer Zerstreuung der Verantwortung. Wir lassen uns von der Untätigkeit der anderen anstecken. Dies gilt in der Medizin zum Glück nicht für akute Notfälle, wo die Rollen in der Regel klar verteilt sind und alle beinahe symphonisch zusammenarbeiten. Doch bei länger andauernden Problemen mit vielen Beteiligten stellt sich zuweilen eine stillschweigende Akzeptanz des "Status quo" ein, selbst wenn dieser nicht funktioniert. Darüber hinaus führt Überarbeitung bei manchen Kollegen zu der Einstellung, das Wort 'Team' sei ein Akronym für: toll, ein Anderer macht's!
Patienten rutschen uns zuweilen auch deswegen durch, weil jeder davon ausgeht, dass es die Kollegen vor ihm besser wissen oder schon durchdacht haben.
Dr. Rosenbaum erinnert sich an eine der ersten Patienten, die sie als Assistentin in der Notaufnahme sah. Sie hatte eine "Magenverstimmung" und ein grenzwertig erhöhtes Troponin. "Ich habe nur einen alten Eiersalat zu Mittag gegessen", meinte die Patientin. Dr. Rosenbaum und der interventionelle Kardiologe dachten demnach an eine Lebensmittelvergiftung und nahmen ihre "unspezifischen" EKG‑Veränderungen gelassen hin. In der Nacht kehrte ihre "Magenverstimmung" mit stärkerer Intensität wieder. Der diensthabende Assistent las die Einschätzung seiner Kollegen und war gleichermaßen unbesorgt. Einige Stunden später hatte die Patientin einen Herz-Kreislauf-Stillstand.
Im eingangs geschilderten Fall wendete sich der Verlauf zum Positiven, weil jemand die Angelegenheit in die Hand nahm: eine Gastroenterologin, die in der Mitte des stationären Aufenthaltes als behandelnder Facharzt hinzukam. Als die Autorin sie fragte, was sie dazu bewegt hatte, die kollektive Starre der anderen Ärzte zu überwinden, sagte sie: "Alle nahmen an, dass es ein anderer erledigt. [...] Ich kam in dieses Zimmer, sah den Stress der Patientin und ihrer Familie und mir wurde klar, dass die Verantwortung bei mir liegen würde."
Sie verbrachte Stunden damit, die Bilder von der anderen Klinik zu besorgen und ins System hochzuladen. Dann "parkte" sie sich selbst zweimal in der interventionellen Radiologie, bis sie die Aufmerksamkeit eines Kollegen sichern konnte, der sie mit der nötigen Expertise unterstützte. Zuerst war er so beschäftigt, dass er sie gar nicht bemerkt hatte, aber dann verbrachte er eine Stunde mit ihr. Sie gingen gemeinsam die bildgebenden Befunde durch, versicherten sich, dass – einer anatomischen Anomalie zum Trotz – der Katheter korrekt platziert worden war, dass keine Gallensteine zurückgeblieben waren und legten einen Plan zum Management des Drainagekatheters fest. Er begleitete die Kollegin sodann ans Patientenbett, um gemeinsam eine klare Botschaft zu diesem Plan zu vermitteln. Die Gastroenterologin meinte: "Das hätte ich nicht gut gekonnt. Die Familie musste vertrauen, und dazu mussten sie wissen, dass ihre Ärzte sich gegenseitig vertrauen." Abschließend versammelte sie eines Morgens vor den Visiten die anderen Ärzte und die zuständige Pflegekraft und wies sie in das Handling des Katheters ein. Und bald darauf ging es der Patientin besser.
Referenzen:
1. Rosenbaum, L. The Not-My-Problem Problem. New England Journal of Medicine 380, 881–885 (2019).
2. Darley, J. M. & Batson, C. D. ‘From Jerusalem to Jericho’: A study of situational and dispositional variables in helping behavior. Journal of Personality and Social Psychology 27, 100–108 (1973).