Autopsie-Studien liefern wichtige Anhaltspunkte für ein besseres Verständnis der Erkrankung und für das Problem der Überdiagnostik.
Etwa einer von drei Menschen wird, wenn er lange genug lebt, eine bestätigte klinische Krebsdiagnose erhalten und es gibt zunehmende Evidenz dafür, dass viele von uns versteckte Tumoren entwickeln. Professor Sir Melvyn Greaves vom britischen Institute of Cancer Research postulierte in einem Artikel in der Nature sogar: möglicherweise jeder von uns.1 Mit "versteckt" meint er subklinischen Krebs oder Krebsvorstufen.
Evidenz für klinisch inapparente Neoplasien liefern uns vornehmlich Autopsien von Menschen, die unfallbedingt oder an nicht onkologischen Ursachen verstorben sind.
Der klassische Fall laut Sir Prof. Greaves: die Prostata. "Solche Fälle beginnen bei Männern in ihren 20ern nachweisbar zu sein und die Mehrheit der Männer in ihren späten 70ern hat diesen Krebs in ihren Prostatadrüsen schlummern." In den meisten autoptisch untersuchten Geweben lag bislang die Häufigkeit von Krebsvorstufen (zumeist als Carcinoma in situ definiert) erheblich über der letztendlichen Häufigkeit einer klinischen Krebserkrankung oder dem kumulativen Lebenszeitrisiko, einen apparenten Krebs zu entwickeln. Dies trifft neben Neubildungen der Prostata auch für solche der Schilddrüse (bei 6–36% der Autopsien detektiert), der Lunge, des Kolons, des Endometriums, des Pankreas, der Niere und der Mamma zu.1
Ein systematisches Review hierzu aus dem International Journal of Cancer stütze sich auf 29 Autopsie-Studien und hatte ergeben, dass bei fast jedem zweiten Mann zwischen 70 und 80 Jahren mit anderer Todesursache (46%) erst post mortem ein Prostatakarzinom entdeckt wurde.2,3
Die Rate lag damit deutlicher höher als bei Männern, die das reguläre Screening durchlaufen. Nach Einschätzung der Autoren vom Centre for Research in Evidence Based Practice in Gold Coast, Australien, könnte dies Ausdruck der mäßigen Sensitivität des PSA zur Krebsdetektion sein. Insbesondere könnte es auch die Tatsache widerspiegeln, dass selbst multiple Nadelbiopsien einen kleinen Fokus verfehlen können.
Zu diesen bereits etwas zurückliegenden Artikeln erschien Ende April 2020 in der Nature Reviews Urology ein Kommentar, der folgende interessante Auswertungen von Autopsie-Studien hinzufügt.4
Die pathologische Definition von klinisch signifikantem Prostatakrebs beinhaltet drei Kriterien: Gleason-Score > 6, Indextumor-Volumen ≥ 0,5 cm3 und extraprostatische Ausdehnung. Latenter Prostatakrebs verursacht keine klinischen Symptome, aber etwa 20% dieser Neubildungen haben einen Gleason-Score > 6. Eine kleine Studie berichtete, dass 42,5% (20 von 47) Prostatatumoren in Autopsien von amerikanischen Männern ohne ein bekanntes Prostatakarzinom in der Anamnese einen Gleason-Score von 7 aufwiesen.5 Eine andere Untersuchung ergab, dass bei 51,4% japanischer Männer, die nicht an Prostatakrebs verstorben waren, ein Tumor mit einem Gleason-Score von 7 entdeckt wurde.6
Für latente Prostatatumore wurden in den ausgewerteten Arbeiten Tumorvolumina zwischen 0,01 bis 2,5 cm3 berichtet, wobei ein Viertel der Funde die 0,5 cm3 überschritten.5,6
Eine extraprostatische Ausdehnung (EPE) war in ca. 10 % der kanzerösen Autopsie-Proben nachweisbar, zumeist in Form einer lokalen EPE.
Obwohl einige dieser post mortem zufällig entdeckten Tumoren also einen hohen pathologischen Grad aufweisen, können Menschen jahrelang unbeeinträchtigt von ihnen leben. Ein Screening auf diese Tumoren erhöht die Chance auf Überdiagnostik, insbesondere in Populationen mit erhöhter Prävalenz.
Autopsie-Proben zu gewinnen, ist arbeitsintensiv und schwierig, was zu geringer Studienzahl, kleinen Stichprobengrößen und dadurch begrenzter statistischer Power führt. Diese Beobachtungen müssten mit größeren Datenmengen verifiziert werden, denn sie weisen auf ein verbreitetes Vorkommen klinisch signifikanter Tumoren (zumindest nach derzeitigen Kriterien) bei Obduzierten hin.
Die Autoren des aktuellen Beitrages in der Nature werfen daher die Frage auf: wenn sich diese Tumoren nicht so maligne verhalten wie bislang angenommen, sollten wir dann die aktuellen Kriterien überdenken? Um eine Balance zwischen Über- und Unterdiagnostik zu finden, schlagen sie bspw. die Zuhilfenahme von MRT‑-Bildgebung und molekularbiologischen Verfahren vor.4
Aus diesen Studien ergeben sich klinische Implikationen.
Zum Ersten: das offenkundige Risiko, mittels Screening Tumoren zu diagnostizieren und ggf. zu therapieren, die auch ohne Intervention zu Lebzeiten nicht zu Problemen geführt hätten. Ein sensitiverer Test als PSA oder ein niedrigerer Grenzwert und häufigere Biopsien erhöhen das Risiko für Überdiagnostik.
Zum Zweiten: die Rate der überdiagnostizierten Fälle steigt mit dem Alter.
Denn die Prävalenz von Neubildungen der Prostata nimmt (in nicht linearer Form) mit den Jahren zu, von 5% bei unter 30-‑Jährigen bis 59% bei über 79-‑Jährigen.
Somit besteht ein erhebliches Reservoir latenter Prostatatumoren, welches mit dem Alter wächst. Die Autoren meinen daher, dass das Risiko einer Überdiagnostik den Nutzen des Screenings limitiert.2
Die US Preventive Services Task Force hat 2018 eine Empfehlung gegen ein PSA‑-Screening bei Männern über 70 abgegeben.7 Bei Männern zwischen 55 und 69 Jahren soll eine individualisierte Entscheidung erfolgen. Auch in Deutschland urteilte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in einem kürzlich publizierten Vorbericht, dass das Screeningverfahren mehr Schaden als Nutzen bringe.8 Der Abschlussbericht wird voraussichtlich am 22.05.2020 veröffentlicht.
Die Quintessenz einer der größten Studie zum Prostatakarzinom, die 2018 im Journal of the American Medical Association (JAMA) veröffentlicht wurde, weist ebenfalls in diese Richtung, siehe dazu unseren damaligen Beitrag.
Diese hohen Prävalenzen histologischer Funde dürfen, so die Wissenschaftler, nicht vergessen lassen, dass sich wenige Prostatatumoren zu Lebzeiten zeigen, wenn sie nicht gerade durch Screening detektiert werden und dass selbst in intensiv gescreenten Populationen die meisten von ihnen unentdeckt bleiben.
Eine Implikation für die Forschung ist daher die Dringlichkeit, bessere Methoden zur Unterscheidung progressiver von indolenten Prostatatumoren zu finden.2
Referenzen:
1. Greaves, M. Does everyone develop covert cancer? Nat. Rev. Cancer 14, 209–210 (2014).
2. Bell, K. J. L., Mar, C. D., Wright, G., Dickinson, J. & Glasziou, P. Prevalence of incidental prostate cancer: A systematic review of autopsy studies. International Journal of Cancer 137, 1749–1757 (2015).
3. Jeder Zweite über 70 hat latenten Prostata-Krebs. AerzteZeitung.de https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Jeder-Zweite-ueber-70-hat-latenten-Prostata-Krebs-246720.html.
4. Chen, Y. & Yan, W. Implications from autopsy studies of latent prostate cancer. Nat Rev Urol 1–2 (2020) doi:10.1038/s41585-020-0327-7.
5. Haas, G. P. et al. Needle biopsies on autopsy prostates: sensitivity of cancer detection based on true prevalence. J. Natl. Cancer Inst. 99, 1484–1489 (2007).
6. Zlotta, A. R. et al. Prevalence of prostate cancer on autopsy: cross-sectional study on unscreened Caucasian and Asian men. J. Natl. Cancer Inst. 105, 1050–1058 (2013).
7. US Preventive Services Task Force et al. Screening for Prostate Cancer: US Preventive Services Task Force Recommendation Statement. JAMA 319, 1901–1913 (2018).
8. www.iqwig.de - [S19-01] Prostatakarzinom-Screening mittels PSA-Test. https://www.iqwig.de/de/projekte-ergebnisse/projekte/nichtmedikamentoese-verfahren/s-projekte/s19-01-prostatakarzinom-screening-mittels-psa-test.11857.html.