Wenn das Krankenhaus zu einem der einsamsten Orte der Welt wird

Ein führender Spezialist für onkologische Forschung und Therapie legte in einem Kommentar dar, warum generelle Besuchsverbote aufgrund von Covid-19 in seinen Augen schlechte Medizin sind.

Ein führender Spezialist für onkologische Forschung und Therapie legte in einem Kommentar dar, warum generelle Besuchsverbote aufgrund von Covid-19 in seinen Augen schlechte Medizin sind.

Die Tatsache, dass in Deutschland für viele Stationen bzw. ganze Kliniken seit einigen Tagen wieder ein grundsätzliches Besuchsverbot gilt, stellt viele unserer Patienten und deren Angehörige vor große psychische Belastungen. Ausnahmen werden vielerorts nur in Einzelfällen ermöglicht (Besuch von Sterbenden, Behandlung von Kindern oder Begleitung von Müttern zur Entbindung).
Anlass genug, um auf einen wertvollen Beitrag1 eines amerikanischen Onkologen zurückzukommen, der bereits zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung (im August) auf große Resonanz stieß.

"Die Technologie überbrückt dies zu einem gewissen Grade, aber es ist einfach nicht das Gleiche. Das wissen wir alle."

"Eine der derzeit schlechtesten Bestimmungen für unsere Patienten ist das Besuchsverbot"", sagt Prof. John L. Marshall zu Beginn seines Kommentars für Medscape.1 Er ist Chefarzt der Abteilung Hämatologie/ Onkologie an der Universitätsklinik Georgetown, Washington D.C., sowie Gründer und Direktor des Otto J. Ruesch Center for the Cure of Gastrointestinal Cancers. Als ärztlicher Leiter von über 150 klinischen Studien gilt er auch als einer der führenden Forscher des Gebietes.

Insbesondere Krebspatienten – deren Therapie- und Rehabilitationsaufenthalte sie oft lange von ihrem zu Hause trennen und die im Verlauf nicht selten mit schwierigen Entscheidungen und schlechten Nachrichten umgehen müssen – trifft dies besonders hart. Schlimmer noch, wenn es um Therapien am Lebensende oder komplexe Eingriffe geht und derjenige keinen Beistand an seinem Bett sitzen haben kann, meint Prof. Marshall.

Neben der psychischen Belastung, die solche Regulationen bedeuten, sieht er vor allem mit Sorge, dass die Qualität der Versorgung leidet, wenn keine Bezugspersonen da sind.

Als Folge der Besuchsverbote beobachtet er zum Einen, dass Patienten ungewöhnliche Entscheidungen treffen. Im aktuellen Kontext ist es keine Seltenheit, dass jemand nicht (oder lange Zeit nicht) ins Krankenhaus geht, um untersuchen zu lassen, was ihm fehlt (wir berichteten) Laut Prof. Marshall sei es auch keine Seltenheit, dass ein Patient sagt: "Ich will nicht da rein und einsam sein, selbst wenn das bedeutet, dass mein Leben kürzer ist. Ich mache keinen weiteren Zyklus einer Viertlinientherapie bei metastatischer Erkrankung, weil ich nicht riskieren will, allein im Krankenhaus zu enden[...]."

Bezugspersonen sind mitten drin, nicht nur dabei

Auch der Aspekt, dass Bezugspersonen oft bei der Koordination der Versorgung helfen, dürfe nicht vergessen werden. Nicht nur, aber gerade ältere Patienten sind nach größeren Operationen oder Narkosen besonders vulnerabel und inmitten ständig wechselnden Personals, ständig wechselnder Umgebungen und Aufklärungsbögen, denen sie oft schwer folgen können, ziemlich schnell verloren, wenn keine Betreuungsperson dabei ist, die sie zwischendurch beruhigt und übersetzt.

Aber auch das Behandlungsteam ist ohne Angehörige zu Zeiten genauso verloren. "So oft wir auch sagen, dass sie uns stören könnten, verlassen wir uns doch auf sie", meint Prof. Marshall. Wie oft kommt der entscheidende Hinweis aus der Fremdanamnese oder wir bekommen zu hören: "Das weiß ich nicht, das macht sonst immer mein(e) Frau/ Mann/ Sohn/ Tochter."

Auch die zahlreichen Antworten auf den Beitrag sind sehr lesenswert:

Ein Leser, der über 40 Jahre im Gesundheitswesen tätig war, erst im klinischen und später im administrativen Bereich, hatte OP-Verschiebungen und Besuchsverbote gerade selbst als Krebspatient erlebt. Er beschreibt, dass nicht einmal seine Vorsorgebevollmächtigte, seine Frau, ihn postoperativ habe sehen dürfen und Entscheidungen per Telefon treffen musste. "Während ich das Bestreben verstehe, das Risiko durch Besucher zu mindern, scheint es, dass wir die patientenzentrierte Versorgung aus den Augen verloren haben."

Eine Arzthelferin kommentierte: "Ich war schon auf beiden Seiten... als Versorger und als Patient. Familienmitglieder sind ein Schutz vor medizinischen Fehlern. Sie können häufig Informationen liefern, an die sich Patienten nicht erinnern können, weil sie zu krank sind. Und sie helfen den Patienten, weil die Pfleger bereits überlastet sind. Jeder, der schon einmal Patient war und nicht an den Becher mit dem Wasser oder die Klingel heran kam, kennt [das]."

"Die Versorgung Krebskranker ist nicht elektiv, sie muss weiter gehen"

Ärzte, Pflegekräfte und weitere Mitglieder der Behandlungsteams leisten derzeit zusätzlich zu ihrem ohnehin immensen Arbeitspensum Erhebliches. Aber sie können die engen Bezugspersonen nicht ersetzen. Diverse Studien sprechen dafür, dass das Level an Unterstützung durch nahestehende Personen die Krankheitsbewältigung, die Lebensqualität und den Verlauf beeinflusst.2,3

Prof. Marshall fragt sich, wie viel davon noch nachhängen oder so bleiben wird, wenn die Maßnahmen gelockert werden. Zum Zeitpunkt seines Kommentars war in der US-amerikanischen Hauptstadt der reguläre Klinikbetrieb wieder angerollt. "Dieser einsamste Ort der Welt, den wir in unseren Krankenhäusern geschaffen haben, lehrt uns alle eine Lektion für die Zukunft", schließt er. "Ich würde gern wissen, ob wir zu dem zurückkehren werden, wo wir vorher waren, oder ob wir darüber reflektieren und die Wichtigkeit dessen, mit der Familie zu Hause zu sein, stärker berücksichtigen werden."

Referenzen:
1. No-Visitor Policies Are Bad Medicine. Medscape http://www.medscape.com/viewarticle/934979.
2. Antoni, M. H. Psychosocial intervention effects on adaptation, disease course and biobehavioral processes in cancer. Brain, Behavior, and Immunity 30, S88–S98 (2013).
3. Psyche, Stress und Krebs (Teil II) – Effektive Interventionen, große Wirkung.