Wie wirkt sich die Corona-Krise auf onkologische Patienten aus?

Trotz Corona-Krise: Versorgung von Krebspatienten sicherstellen.

Trotz Corona-Krise: Versorgung von Krebspatienten sicherstellen.

Heute möchte ich zuvorderst einen vor wenigen Tagen im New England Journal of Medicine (NEJM) erschienenen, im Freitext verfügbaren Artikel hervorheben, der die Auswirkungen der Corona-Krise auf Patienten ohne Covid‑19 erörtert und dabei besonders auf die Onkologie eingeht. Darin kommen verschiedene Spezialisten aus den USA zu Wort.

Dr. David Ryan, Chef der Onkologie am Massachusetts General Hospital, sagt, drei Patientengruppen machen ihm am meisten Sorgen. Die Subgruppe der Lymphom-Patienten, für die eine CAR‑T-Zelltherapie potenziell kurativ wäre. Die Hälfte von ihnen wird im Rahmen von Studien behandelt, von denen viele derzeit pausiert sind. Aufgrund des hohen Infektionsrisikos und der Wahrscheinlichkeit, dass eine Intensivbehandlung nötig wird, sieht er Patienten, die Knochenmarkstransplantationen benötigen, ähnlich betroffen. Und als drittes Kollektiv: Patienten mit refraktären Neoplasien, die ihrem Lebensende entgegen gehen, aber denen er normalerweise noch eine Teilnahme an einer Studie zu einer experimentellen targeted therapy anbieten würde, da dies bei 20% der Patienten mit einem klinischen Nutzen assoziiert ist.1
Dr. Michael Grossbard, Chef der Hämatologie am University’s Langone Hospital, New York, resumiert: "Unsere medizinische Praxis hat sich in einer Woche mehr verändert als in den letzten 28 Jahren zusammen."

Dieser Beitrag ist weniger frontal, sondern trägt lediglich Stimmen aus verschiedenen Ländern zusammen und soll eine Einladung an Sie sein, sich im Kommentarbereich auszutauschen: wie erleben Sie die Situation in der ambulanten und stationären Onkologie?

Stimmen aus Deutschland

Prof. Joachim Jähne, Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Diakovere Henriettenstift, Hannover, stellt in einem ebenfalls sehr lesenswerten Artikel vom 15. April in der Zeitschrift Der Chirurg fest:
"Nach den ersten zwei Wochen dieser Maßnahme ist festzustellen, dass die Chirurgie im stationären Bereich praktisch zum Erliegen gekommen ist. [...] Es gilt allerdings zu verhindern, dass chirurgische Patienten wegen Covid-19 versterben, ohne daran erkrankt zu sein."2 Seiner Einschätzung nach könnte das Gebiet der Viszeralchirurgie und hierbei die zeitgerechte Therapie onkologischer Patienten kritisch betroffen sein.

Jähne macht auf eine weitere, von den Ärzten des NEJM-Artikels ebenfalls beschriebene, Auffälligkeit aufmerksam: in den vergangenen Wochen sei die Anzahl von Myokardinfarkten, Schlaganfällen und Notfalleingriffen deutlich gesunken. "In der Viszeralchirurgie sind in den letzten Tagen praktisch keine akuten Gallenblasenentzündungen, keine Blinddarmentzündungen und auch keine Divertikulitiserkrankungen notfallmäßig stationär aufgenommen worden." Auch Frakturen seien beträchtlich zurückgegangen. Die möglichen Ursachen sieht er neben der Einschränkung der Bewegungsfreiheit auch in einer Angst, in der aktuellen Situation überhaupt im Krankenhaus vorstellig zu werden. Dass diese Angst schlimmere Folgen produzieren kann als die befürchtete Ansteckung mit Covid‑19, berichten auch Ärzte des Klinikums Starnberg. Selbst schwerkranke Patienten würden derzeit trotz eindeutiger Warnsymptome Untersuchungen oder Behandlungen hinausschieben, bis kritische Situationen entstehen. Mitunter brächten sich Patienten dabei sogar in Lebensgefahr, warnt auch die Asklepios-Klinik in Gauting.3  Auch die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) warnt in einer aktuellen Stellungnahme: es sei zu befürchten, dass schwerwiegende internistische Erkrankungen über kurz oder lang zu vermehrten Todesfällen und somit zu "stillen Opfern" der Corona-Krise führen.4

Stimmen aus der Onkologie     

In unserem Bereich Themenspecial COVID‑19 gab es bereits einen Beitrag der Deutschen Gesellschaft für Urologie e.V. (DGU), der davor warnte, dass Minimalprogramme zu Kollateralschäden bei nicht-COVID-19-Patienten führen könnten. Hier wurde insbesondere auf den Graubereich zwischen zwar grundsätzlich elektiven, aber dennoch nicht wiederholt aufschiebbaren OPs und Maßnahmen hingewiesen. Ein Stichwort war die mögliche Wandlung einer initial kurativ in eine nur mehr palliativ behandelbare Tumorerkrankung durch Metastasierung auf der Warteliste.

 "Die Versorgung von Krebspatienten darf nicht vernachlässigt werden", sagt Gerd Nettekoven, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Krebshilfe.5
In Deutschland erkranken durchschnittlich 1.400 Menschen täglich neu an Krebs. Mehrere hunderttausende Patientinnen und Patienten mit Krebserkrankungen befinden sich in Diagnostik und Therapie.6 Die durch die Corona-Krise bedingten Absagen und Verschiebungen von (vermeintlich) nicht dringlichen Eingriffen lösten bei den betroffenen Patienten Sorgen aus, meint auch Jähne.2 Die Deutsche Krebshilfe, das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) und die Deutsche Krebsgesellschaft haben sich zusammengeschlossen und eine Task Force gebildet, um über ihre Krebsinformationsdienste betroffene Patienten zu beraten. Außerdem solle die aktuelle Versorgungssituation erfasst und ein Frühwarnsystem für mögliche Einschnitte in der Onkologie aufgebaut werden.6

Auch aus Großbritannien kam am 15. April in der Zeitschrift Nature eine solche Stimme.7
Onkologe Prof. James Spicer und seine Koautoren verweisen auf den Umstand, dass Daten aus frühzeitig von der Corona-Krise betroffenen Ländern bislang limitierte Evidenz dafür lieferten, dass Krebs per se ein unabhängiger Risikofaktor für Infektion und Mortalität ist. Gleichzeitig äußern auch sie die Sorge, dass das Abziehen von Infrastruktur und Personal zu schlechteren Outcomes bei Krebs beitragen könnte. Die Take home-Message am Ende ihres Artikels: "Alle Anstrengungen sollten unternommen werden, um zu vermeiden, dass die Erbringung evidenzbasierter onkologischer Versorgung kompromittiert wird, wenn die Infektionsrisiken vom Nutzen der Therapie aufgewogen werden."

Priorisierung aus medizinrechtlicher Sicht

Prof. Dr. Thomas Schlegel, Rechtsanwalt für Medizinrecht, setzt sich in einem aktuellen Kommentar auch mit der rechtlichen Situation auseinander.8 Seiner Einschätzung nach ist an den aktuellen Erlassen manches missverständlich formuliert. Selbstverständlich sollte man in der aktuellen Situation Kapazitäten frei halten, wenn möglich. Doch er betont, dass die Entscheidungshoheit über die Priorisierung weder in gesetzgeberischer noch in der Hand der Einrichtung liege, sondern letztendlich beim Arzt, was auch Implikationen für die Frage beinhalten könne, wer im Fall von Unterversorgung durch die Corona-Bestimmungen (mit)hafte. Ganz wichtig: Wenn es um ärztliche (nicht etwa organisatorische) Entscheidungen geht, dürfen Ärzte keine Weisungen von Nichtärzten entgegennehmen, auch nicht vom Staat oder der Geschäftsführung, so Schlegel. "Sie dürfen keine Grundsätze anerkennen und keine Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit ihren Aufgaben nicht vereinbar sind oder deren Befolgung sie nicht verantworten können."

Zwar soll der OP‑Betrieb nach der Corona-Pause ab Mai wieder anlaufen, doch laut Aussage von Herrn Spahn sollten in der Startphase zunächst 25–30 % der Intensivbetten freigehalten werden. Vor dem Hintergrund der somit weiterhin umverteilten Ressourcen und dem bereits vorhandenen Stau nachzuholender Termine wird dies zu einer weiteren Phase mit Notwendigkeit zur Priorisierung führen.

Der Kardiologe Dr. Zoran Lasic äußert im eingangs genannten NEJM-Artikel, nachdem derzeit auch in der Region New York weniger Patienten mit akutem Koronarsyndrom vorstellig werden und ein 56‑jähriger Patient aufgrund der Corona-Maßnahmen nicht bei den ersten Beschwerden, sondern erst am Folgetag, mittlerweile in kritischem Zustand, auf seinem Herzkatheter-Tisch ankam: "Ich denke, der Tribut unter Nicht-Covid-Patienten wird viel größer sein als die Covid-Todesfälle."1

Referenzen:
1. Rosenbaum, L. The Untold Toll — The Pandemic’s Effects on Patients without Covid-19. New England Journal of Medicine 0, null (2020).
2. Jähne, J. Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen auf die Chirurgie. Chirurg 1–2 (2020) doi:10.1007/s00104-020-01182-y.
3. Berzl, M. Corona - Patienten kommen aus Angst nicht in die Klinik. Süddeutsche.de https://www.sueddeutsche.de/muenchen/starnberg/starnberg-coronavirus-angst-krankenhaus-ansteckung-1.4880497.
4. Aus Angst vor Virus: Ärzte warnen vor »stillen Opfern« der Corona-Pandemie. Pharmazeutische Zeitung online https://www.pharmazeutische-zeitung.de/aerzte-warnen-vor-stillen-opfern-der-corona-pandemie-116733/.
5. Corona: Ist meine Krebstherapie beeinträchtigt? Blog | Deutsche Krebshilfe https://www.krebshilfe.de/blog/corona-ist-meine-krebstherapie-beeintraechtigt/ (2020).
6. Trotz Corona-Krise: Versorgung von Krebspatienten sicherstellen. https://www.krebshilfe.de/informieren/presse/pressemitteilungen/trotz-corona-krise-versorgung-von-krebspatienten-sicherstellen/ (2020).
7. Spicer, J., Chamberlain, C. & Papa, S. Provision of cancer care during the COVID-19 pandemic. Nat Rev Clin Oncol 1–3 (2020) doi:10.1038/s41571-020-0370-6.
8. Legal-Talk: Wer haftet für Kollateralschäden in der Corona-Krise? Medscape http://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4908768.