Ein ehemaliger Regierungsinsider gibt preis, wie Industrien evidenzbasierte Politik untergraben.
Diese Woche möchte ich auf einen Artikel in der aktuellsten Ausgabe der Science aufmerksam machen, in welchem ein neues Buch vorgestellt wird, das Dekaden der Manipulation wissenschaftlicher Forschung durch Großkonzerne eindrucksvoll beleuchtet, angefangen mit den Kampagnen der Tabakindustrie in den 1950ern bis heute.
Das Anfang Februar bei Oxford University Press erschienene Buch trägt den Titel "The Triumph of Doubt".1 Der Autor, David Michaels, ist Epidemiologe und Professor für Umwelt- und Arbeitsmedizin an der George Washington University und war von 2009 bis 2017 unter Präsident Obama stellvertretender Arbeitsminister sowie leitender Sicherheitsbeauftragter für den Bereich Nuklearwaffen unter Präsident Clinton.2
Aus seinem großen Erfahrungsschatz zeigt er auf, wie industrielle Organisationen gezielt Zweifel in die Welt setzen und Expertise diskreditieren, um schädliche Produkte nicht nur zu verteidigen, sondern sie als sicher zu vermarkten. Hierzu analysiert er zahlreiche namhafte Fälle, in denen es um vieles geht, was uns ständig begegnet: Autos, Übergewicht, Nahrungsmittel, Getränke, Asbest, Opioide, Leistungssport, fossile Brennstoffe und die Luft, die wir atmen. Er dokumentiert Scheinstudien, Kongressausschüsse und Strategiedokumente, die Unternehmen genutzt haben, um Vorschriften zu umgehen und stellt bloß, wie häufig und einfach Firmen bspw. bei Genehmigungsprozessen auf Gutachter einwirken, um sicherzustellen, dass ihre Produkte nicht als krebserregend eingestuft werden – selbst wenn sie es sind.3
Hier hat sich in unserem System etwas auf den Kopf gestellt. Im Sinne des Vorsorgeprinzips ist es ohnehin nicht akzeptabel, dass oft gewartet wird, bis sich rückblickend Schäden herausstellen, damit ein Produkt vom Markt genommen wird. Michaels meint dazu, es müsse umgekehrt sein als bei Angeklagten, für die gilt: innocent, until guilty. Das heißt: eine neue Chemikalie o. ä. sollte zunächst mit der gleichen Skepsis gehandhabt werden wie eine schädliche und zwar, bis ihre Unbedenklichkeit erwiesen ist – und nicht so lange als sicher gehandelt werden, bis die Evidenzlage zu den Gefahren erdrückend wird.
Michaels nennt diejenigen beim Namen, die für Täuschung, Betrug und was er "Klimaterrorismus" nennt verantwortlich sind und möchte den Leser dafür sensibilisieren, wie mächtige Gesellschaften und Einzelpersonen immer wieder erfolgreich alternative Fakten zu Sicherheit und Gesundheit schaffen, indem sie Artikel und Ablenkungen produzieren, die dazu gedacht sind, Wissenschaft zu verfälschen oder abzustreiten und die Bevölkerung zu verwirren.1
Er zeigt auf, wo und wann Wissenschaft "for sale" ist, indem betrügerische Studien angefertigt oder echte, vorhandene Studien re-analysiert wurden, um Erkenntnisse zu verzerren. Ein prominentes Beispiel, die Zuckerindustrie, hatten wir vor Zeiten in einem eigenen Beitrag behandelt: Gar nicht so süß: Der Krebs-Zucker-Link. Eng verbunden damit sind von bestimmten Industrien eigens gegründete Organisationen, die sich den Anschein geben, unabhängig zu sein und Forschung voranbringen zu wollen.
In dem Kapitel "The Science of Deception" schreibt Michaels: "Forschung ist ein Maßstab für echte wissenschaftliche Expertise und eine Publikation in einer peer-reviewten Zeitschrift ist das, was Forschung von einer bloßen Argumentation unterscheidet. Die Industrie versteht dies sehr gut [...] Akademische Journals sind ein großes Geschäft, sowohl für professionelle Gesellschaften, die diese sponsern, als auch für die Herausgeber [...] Sie dienen auch einer fest eingefahrenen Funktion im akademischen Geschäft, wo Karrieren darauf aufgebaut werden, Studien in renommierten Zeitschriften zu publizieren."
Er ermahnt zur Umsicht, dass eine Veröffentlichung in einer peer-reviewten Zeitschrift jedoch nicht zwingend für hohe Qualität bürgt und beschreibt, dass Im Fall solcher Produktverteidigungspublikationen der Peer-Review-Prozess oft von anderen Wissenschaftlern durchgeführt wird, die selbst ein Interesse daran haben, schädliche Substanzen zu entlasten, was er auch "litigation science" nennt. Solche Arbeiten haben keinen anderen Wert als die Wünsche der Unternehmer wissenschaftlich schönzureden und Ausschüsse davon zu überzeugen, ihnen mühsame Verfahren zu ersparen. Auch sog. Vanity Journals (bei denen der Autor dafür bezahlt, dass sein Paper veröffentlicht wird und in deren Redaktionen auch viele Wissenschaftler mit finanziellen Verknüpfungen zur Industrie sitzen) haben laut Michaels einen großen Anteil an der starken Zunahme wissenschaftlicher Zeitschriften in den letzten Jahrzehnten. Die Artikel sehen für Uneingeweihte und Ausschussmitglieder oft trotzdem glaubwürdig aus, nicht zuletzt, weil natürlich nicht alle Redaktionsmitglieder aus dem Consulting-Bereich kommen und neben Produktverteidigung auch andere Arbeiten erscheinen.2
"Nur wenn wir anfangen, den Machtmissbrauch wahrzunehmen, der in Entscheidungen ausufert, die sich auf die Gesundheit und Sicherheit unserer Familien und Kommunen auswirken, werden wir unsere notwendige Rolle verstehen, wissenschaftliche Integrität in der Politikgestaltung einzufordern. The Triumph of Doubt bringt uns vielleicht einen Schritt näher", schließt die Autorin, Sheril Kirshenbaum, ihre Buchvorstellung in der Science.
Sheril Kirshenbaum ist eine junge Frau aus Michigan, Koautorin von "Unscientific America: How Scientific Illiteracy Threatens Our Future" und geschäftsführende Leiterin der gemeinnützigen Organisation Science Debate, deren Ziel es ist, den rechtmäßigen Platz der Wissenschaft in der Politik (wieder)herzustellen.
Referenzen:
1. Kirshenbaum, S. The art of misleading the public. Science 367, 747–747 (2020).
2. Michaels, D. The Triumph of Doubt: Dark Money and the Science of Deception. https://global.oup.com/academic/product/the-triumph-of-doubt-9780190922665?cc=de⟨=en& (2020).
3. David Michaels - The Triumph of Doubt: Dark Money and the Science of Deception — in conversation with Nell Henderson | Politics and Prose Bookstore. https://www.politics-prose.com/event/book/david-michaels-triumph-of-doubt-dark-money-and-science-of-deception-in-conversation-nell.