Dass Männer und Frauen unterschiedlich krank sind, ist nichts Neues. Man denke nur an die sprichwörtliche Männergrippe. In einigen Fachbereichen, allen voran in der Kardiologie, wird diese Tatsache auch bereits therapeutisch berücksichtigt. Warum ist die Ophthalmologie bislang noch kaum auf die Idee gekommen, die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Augenerkrankungen zu untersuchen? Prof. Dr. med. Andrea Gamulescu, Leitende Oberärztin der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Regensburg hat sich diesem Missstand jetzt gewidmet. Auf der heutigen Pressekonferenz des 117. DOG-Kongresses in Berlin sprach sie über bereits bekannte Unterschiede, ihre möglichen Ursachen und die Notwendigkeit weiterer Forschung auf dem Gebiet der ophthalmologischen Gendermedizin.
"Also für mich war das neu", berichtet Prof. Gamulescu. "Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, ob das Auge, das ich behandle oder operiere, zu einem Mann oder zu einer Frau gehört." Erst im letzten Jahr sei sie im Rahmen eines Symposiums auf das Thema aufmerksam geworden. Unterschiede in der Häufigkeit der Verteilung bei einigen Augenerkrankungen sind bekannt. So wird angenommen, dass die altersbedingte Makuladegeneration eher bei Frauen auftritt. Epidemiologische Studien, die dies herausgefunden haben, sind jedoch oft schon älter und werden von neueren Studien nicht bestätigt. Hier sind demografische Faktoren zu berücksichtigen und eine Bereinigung der Daten vonnöten, bevor Aussagen getroffen werden. Bei kurzsichtigen, jungen Männern scheint häufiger eine Netzhautablösung aufzutreten, wobei Kurzsichtigkeit selbst wiederum häufiger bei Frauen vorkommt. Hier kommt es zu Verfälschung der Daten durch Überlappungen. Das trockene Auge tritt häufiger bei Frauen nach der Menopause auf. Es wird angenommen, dass dies im Zusammenhang mit der hormonellen Veränderung steht, das heißt insbesondere mit dem Rückgang der Östrogen-Produktion.
Die Unterschiede zu beobachten und zu beschreiben, ist ein Teil der Aufgaben der Gendermedizin - ein anderer Teil jedoch ist, Evidenzen zu liefern. Hier steht die Augenheilkunde allerdings bislang noch ziemlich ratlos da. Weder gibt es eine Kenntnis darüber, woher die Unterschiede stammen, da es noch keine ausreichenden Daten gibt, die diese belegen könnten noch haben die bisherigen Beobachtungen Konsequenzen in der Behandlung. Hier gibt es deutlichen Nachbesserungs- und Forschungsbedarf. Bereits 2001 empfahl die WHO die Entwicklung von Strategien für eine geschlechtsspezifische Gesundheitsvorsorge und in der Folge ihre Umsetzung. Bis heute ist auf diesem Gebiet noch nicht viel passiert. Auch die medizinische Ausbildung an den Universitäten lässt hinsichtlich genderspezifischer Differenzierung sehr zu wünschen übrig - und damit auch die Sensibilisierung des ärztlichen Nachwuchses für das Thema.
Dabei gibt es bereits zahlreiche Fakten, die eine geschlechterdifferente Perspektive und Behandlungsstrategie rechtfertigen. Im Fall von Autoimmunerkrankungen ist nachgewiesen worden, dass es auf Grund einer stärkeren intrinsischen Immunantwort bei Frauen häufiger zu stärkeren Entzündungsreaktionen kommt als bei Männern. Die Erkenntnisse aus der Immunologie und Neuroimmunologie sind auch für die Augenheilkunde relevant und werden in Zukunft sicherlich eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordern. Gleiches dürfte für die Endokrinologie gelten. Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse, insbesondere die Hashimoto-Thyreoiditis und der Morbus Basedow zeigen deutlich geschlechterspezifische Prävalenzen. Beide Erkrankungen betreffen häufiger Frauen als Männer. Beim Morbus Basedow mit Augenbeteiligung hat sich eine Therapie mit dem Spurenelement Selen als vielversprechend erwiesen. Geschlechtsspezifische Unterschiede im Metabolismus des Selens für die Biosynthese relevanter Selenoproteine wurden belegt.
Interessant ist: Die für das menschliche Auge beim bloßen Betrachten nicht erkennbaren Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Augen werden von algorithmenbasierten Deep-Learning-Systemen leicht wahrgenommen. Hier könnte Künstliche Intelligenz also helfen, die Lücken zu schließen. Es stellt sich dann jedoch noch immer die Frage, um wieviel komplexer die Problematik der Gendermedizin wird, wenn sie, wie in anderen Wissenschaftszweigen längst selbstverständlich, von einer essenzialisierten Geschlechterbinarität Abstand nimmt.
Quelle: 117. DOG-Kongress 2019, 26.09.2019, Berlin