Knapp eine halbe Million Menschen erkranken in Deutschland jedes Jahr neu an Krebs. Mehr als ein Drittel davon ist 75 Jahre oder älter. Was das für die Krebsversorgung in Deutschland künftig bedeutet, erklärt Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann, Versorgungsforscher am Institut für Community Medicine in Greifswald und Keynote Speaker beim Deutschen Krebskongress.
Frage: Herr Professor Hoffmann, Sie haben 2019 im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie die künftige Entwicklung der altersassoziierten Krebserkrankungen in Deutschland analysiert. Wie fällt Ihre Vorhersage aus?
Prof. Hoffmann: Der demografische Wandel wird bis 2025 zu einer 15- bis 20-prozentigen Zunahme des Anteils der über 60-Jährigen an unserer Bevölkerung führen. Prozentual noch stärker, um 35-40 Prozent, steigt der Anteil der über 80-Jährigen – besonders im Osten und Norden Deutschlands. Diese Entwicklung geht einher mit einer zunehmenden Zahl an Krebsneuerkrankungen, vor allem bei den Krebsarten, die vermehrt bei älteren Menschen auftreten. Beispiele hierfür sind Magen-, Darm-, Bauchspeicheldrüsen-, Lungen-, Prostata- und Harnblasenkrebs. Folgt man unserer Schätzung, dann werden 2025 in Deutschland 2,85 Mio. Menschen mit Krebs leben. Bei den Männern sind es vor allem Patienten mit Prostata- und Nierenkrebs sowie mit malignem Melanom, die eine langfristige Versorgung brauchen. Bei den Frauen haben statistisch gesehen Patientinnen mit Brust- und Gebärmutterkrebs sowie mit Melanom langfristig die höchste Überlebenswahrscheinlichkeit.
Frage: Welche speziellen Versorgungsbedarfe haben ältere Menschen mit Krebs?
Prof. Hoffmann: Parallel zum Anstieg der Krebserkrankungen bis 2025 wird auch die Zahl derer zunehmen, die zusätzlich zu ihrer Tumorerkrankung an Diabetes mellitus, chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen, koronarer Herzerkrankung, Adipositas oder Demenz leiden. Das heißt, immer mehr an Krebs erkrankte ältere Menschen sind zusätzlich von einer oder sogar mehreren dieser chronischen Erkrankungen betroffen. Die Begleitmorbidität, in vielen Fällen auch Multimorbidität, muss bei der Behandlung sorgfältig berücksichtigt werden. Darüber hinaus geht es aber nicht nur um die Begleiterkrankungen, sondern insgesamt um den körperlichen Allgemeinzustand und um die Lebensumstände unserer Patienten: Sind sie mobil und können sich zuhause noch selbst versorgen, oder brauchen sie besondere Unterstützung im häuslichen Alltag, zum Beispiel bei der regelmäßigen Einnahme von Medikamenten, beim Einkaufen oder bei der Körperpflege?
Frage: Wie kann man herausfinden, welche Ressourcen und Versorgungsbedarfe ältere PatientInnen aufweisen?
Prof. Hoffmann: Durch ein sogenanntes geriatrisches Assessment. Darunter versteht man standardisierte Verfahren, die die medizinischen, funktionellen und psychosozialen Ressourcen und Probleme betagter Patienten erfassen. Solche Verfahren sind wichtig, denn in der ärztlichen Sprechstunde ist ein Pflegebedarf in der häuslichen Umgebung oft nicht sofort erkennbar ‒ viele ältere Menschen versuchen, beim Arztbesuch möglichst fit zu erscheinen, auch wenn ihnen der Alltag zuhause schwerfällt. Patienten, die 70 Jahre oder älter sind und aufgrund der Art, Schwere und Komplexität ihres Krankheitsverlaufs einen besonders aufwendigen geriatrischen Versorgungsbedarf aufweisen, haben nach §118a Sozialgesetzbuch ein Anrecht auf eine spezialisierte geriatrische Versorgung.
Frage: Gerade in ländlichen Gebieten ist zu erwarten, dass zunehmend weniger FachärztInnen für die Versorgung von an Krebs Erkrankten zur Verfügung stehen. Wie stellen wir sicher, dass nicht gerade ältere Erkrankte von der Versorgung abgehängt werden?
Prof. Hoffmann: Diagnostik, Therapieentscheidung und stationäre Therapiemaßnahmen sollten an qualifizierten Zentren erfolgen, die über Erfahrung im Umgang mit diesen medizinisch oft hochkomplexen Maßnahmen verfügen ‒ auch wenn das bedeutet, dass die Behandlung nicht immer in unmittelbarer Wohnortnähe durchgeführt werden kann. Wichtig ist, dass die Zentren eng mit den Leistungserbringern am Wohnort zusammenarbeiten, sodass die Patienten auch nach dem Übergang vom Zentrum in die wohnortnahe ambulante Versorgung optimal betreut werden. Das bedeutet auch: Es bedarf einer fachkundigen Betreuung, um alle notwendigen Maßnahmen in die Wege zu leiten und zu koordinieren. Damit sind die Patienten zuhause nämlich oft überfordert.
Frage: Wie könnte eine solche Koordinierung konkret aussehen?
Prof. Hoffmann: In Mecklenburg-Vorpommern wird die Etablierung einer Lotsenfunktion geplant. Die Idee dazu entstand zuerst in Sachsen: Onkologische Patienten bekommen von der Krankenkasse einen Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin gestellt – er oder sie sucht die Betroffenen zu Hause auf. Bei Demenzkranken haben wir mit einem ähnlichen Modell sehr gute Erfahrungen gemacht. Unsere Untersuchung dort ergab, dass versorgungsrelevante Details oft übersehen werden, wenn die individuelle häusliche Umgebung nicht genügend berücksichtigt wird. Obwohl die Betroffenen regelmäßig Hausarzttermine wahrgenommen hatten, ergaben sich im Durchschnitt pro Person etwa acht Versorgungsbedarfe, die zuvor nicht erfüllt wurden. Ich glaube, ein ganz wichtiger Schlüssel für eine gute Versorgung liegt auch für ältere Krebskranke in solchen koordinierenden Ansprechpersonen vor Ort. Wie sich das noch besser als bisher umsetzen lässt, gerade auch in ländlichen Regionen, darüber wollen wir beim Deutschen Krebskongress diskutieren.