Bei der medizinischen Versorgung von Menschen in Kriegsgebieten habe sich innerhalb der letzten Jahrzehnte viel getan, gibt Dr. Joanne Liu, Präsidentin der internationalen Organisation für medizinische Nothilfe Médecins Sans Frontières, zu verstehen. Noch in den 90er Jahren habe man sich vielerorts allein um die Versorgung von Kriegsverletzungen gekümmert – dabei wurden viele Menschen abseits des Kriegsgeschehens, etwa mit Infektions- oder chronischen Krankheiten, zu Kollateralschäden. Bei dem Versuch, ein Opfer sexueller Gewalt mit PrEP zu behandeln, wurde ihr von einem Vorgesetzten vermittelt: "An einer Vergewaltigung stirbt man nicht." Heute versuchten Ärzte und Helfer in Krisengebieten allen Patientinnen und Patienten die individuell benötigte medizinische Hilfe zukommen zu lassen.
Patienten mit HIV oder AIDS sind in Kriegsgebieten laut Dr. Liu oftmals einer doppelten Bedrohung ausgesetzt: einerseits befinde man sich in einem andauernden Kampf gegen das Virus, andererseits seien Betroffene mit einem zerstörten Gesundheitssystem konfrontiert – all das in einem Umfeld, das grundsätzlich schon von Faktoren wie dem Zusammenbruch der Zivilisation und Lebensmittelknappheit dominiert wird. Das zeige sich auch am Beispiel der Ukraine: Hier lebten nach aktuellen Zahlen etwa 250.000 Menschen mit HIV oder AIDS, von denen sich über 20.000 vor dem Ausbruch des Krieges in Behandlung befanden. Zusätzlich wurden in der Ukraine 19.000 Menschen mit Tuberkulose medizinisch behandelt, 4.000 davon mit MDR-TB.
Dr. Andriy Klepikov, Executive Director der Alliance for Public Health, merkt an, dass durch den russischen Angriffskrieg 750 Krankenhäuser in der Ukraine zerstört wurden. Diese Entwicklung hatte auch massive Auswirkungen auf Patientinnen und Patienten in medizinischer Behandlung. In den ersten Kriegswochen habe man den Kontakt zu einem Großteil der Menschen in HIV-Behandlung verloren. Viele Patienten sähen in einer solch prekären Situation teilweise keinen Sinn mehr darin, die Behandlung fortzuführen. Klepikov zitiert eine Patientin: "Ich weiß nicht, was mich zuerst umbringen wird: die Bomben oder HIV."
Teils konnte nur durch mühsame Arbeit von NGOs der Kontakt wiederhergestellt werden. So habe die Alliance for Public Health etwa sichergestellt, dass auch in Kriegszeiten die medizinische Versorgung von über 200.000 Menschen mit HIV weiterhin gewährleistet werden kann. 556 Menschen mit einem erhöhten Risiko hätten während der ersten 100 Kriegstage begonnen, PrEP zu nehmen, das Bedürfnis nach HIV-Prävention unter Trans*-Menschen in der Ukraine sei in einigen Regionen um das 6,8fache angestiegen. Auch in den Kriegsgebieten hätten Ärztinnen und Ärzte Patienten mit HIV 3-6 Monate lang per antiretroviraler Therapie behandeln können. Die Tatsache, dass in Kriegszeiten sowohl neue Patienten erreicht werden konnten als auch der Kontakt zu früheren Patienten wieder aufgebaut werden konnte, spricht laut Klepikov eine deutliche Sprache, wie unerlässlich von NGOs organisierte Programme und Dienstleistungen zur Prävention von HIV sind und bleiben.
Ohne den Einsatz von Zivilgesellschaften und humanitäre Hilfe, betont der Mediziner, hätte ein Großteil der Patienten mit HIV oder AIDS die Behandlung unterbrechen oder abbrechen müssen: seit den ersten Kriegstagen hätte etwa die APH 520.000 Tonnen medizinische Güter in die Ukraine transportiert, dabei 520.000 Kilometer zurückgelegt und Hunderte von Menschen aus den zerstörtesten Regionen evakuiert. Um die medizinische Versorgung in Krisengebieten langfristig zu gewährleisten, seien voll finanzierte globale Fonds unerlässlich. Eine weitere große gesundheitliche Gefährdung in der Ukraine sieht Dr. Klepikov hinsichtlich der Tuberkulose. Gerade Menschen unterhalb der Armutsgrenze seien besonders gefährdet – und selbst nach optimistischen Schätzungen seien noch in diesem Jahr 9 von 10 Ukrainerinnen und Ukrainern kriegsbedingt bedroht, in Armut zu leben. In den Augen des Mediziners müssten zur Unterstützung der Menschen in der Ukraine vor allem drei Ziele erfüllt werden:
Vinnay Saldanha, Direktor des regionalen Unterstützungsteam für Osteuropa und Zentralasien bei UNAIDS, betrachtet globale Konflikte als massive Bedrohung für die Umsetzung internationaler Gesundheitsstrategien. So lebten etwa 1 von 14 Menschen mit HIV bzw. 7% aller Menschen mit HIV in Krisengebieten. 274 Millionen Menschen weltweit seien im Jahr 2022 auf humanitäre Hilfe angewiesen – ein dramatischer Anstieg im Vergleich zum Vorjahr, das bereits die höchste Zahl Hilfesuchender seit Jahren aufwies. Angesichts einer weltweit stetig steigenden Zahl an bewaffneten Konflikten sieht der UNAIDS-Direktor somit akuten Handlungsbedarf, vor allem in Form flexibler Fonds, um angepasst auf die gesundheitlichen Bedürfnisse von Menschen in Krisensituationen zu regieren.
Infekte und Infektionskrankheiten, sind sich alle Referierenden zum Ende der Veranstaltung einig, seien in Kriegen oftmals tödlicher als Waffengewalt. Übertragen auf die Versorgung von Menschen mit HIV in bewaffneten Konflikten sehen die Sprecherinnen und Sprecher folgende Schritte als elementar an:
Diese Ziele, so die Referierenden, könnten aber nur durch ein gemeinschaftliches, humanitäres Handeln in Absprache zwischen NGOs und Politik in hilfeleistenden Ländern vollständig erreicht werden.
Weitere Beiträge finden Sie auf unserer Kongress-Seite zur AIDS 2022.
Über Neuigkeiten zu HIV und anderen Infektionskrankheiten sprachen auch die Referenten beim STI-Kongress 2022. Hier finden Sie die Berichterstattung zum STI-Kongress 2022.
Quelle:
Prime Session "HIV in armed conflicts". AIDS 2022, Montreal, 30.07.2022