S3-Leitlinie Angststörungen: Was ist neu?
Angststörungen gehören zu den häufigsten psychiatrischen Störungen und sind mit einer hohen Krankheitslast verbunden. Auf dem Berlin Brain Summit erklärte Prof. Dr. Borwin Bandelow, wie Leitlinien entwickelt werden und was sie für den praktischen Alltag bedeuten.
Die Entwicklung von Leitlinien1
- Auswertung der vorhandenen Leitlinien ("Ist die alte Version der Leitlinie evidenzbasiert?").
- Elektronische Suche in einer wissenschaftlichen Datenbank (z.B. PubMed).
- Auswertung von systematischen Übersichten und Meta-Analysen (PRISMA Statement).
- Qualitätskontrolle der in die Leitlinien einbezogenen Studien ("Werden methodologische Kriterien erfüllt?").
- Strukturiertes Konsensusverfahren.
- Evidenzbewertung der Leitlinien-Empfehlungen.
Fallstricke in der Entwicklung von Leitlinien
Vertreter bestimmter Interessenverbände können Teil der Leitlinien-Gruppe sein.
Persönliche Erfahrungen in der Behandlung der für die Leitlinie relevanten Erkrankung sollte eine Grundvoraussetzung bei der Mitgliederwahl der Leitlinien-Gruppe sein. Grundkenntnisse der Methodologie klinischer Studien sollten ebenso essentielle Auswahlkriterien für die Mitglieder der Leitlinien-Gruppe sein. Bandelow bemängelt an manchen Leitlinien, dass Ideologien oder die ausgeübte Psychotherapierichtung dazu führen können, dass die dementsprechenden Empfehlungen ausgesprochen. Dies kann vor allem dann passieren, wenn die Autorinnen und Autoren ihre selbst entwickelte Behandlungsmethoden in den Leitlinien an erste Stelle platzieren möchten. Interessenkonflikte können auch dann entstehen, wenn bestimmte Personen Vorträge für Pharmafirmen halten und hierfür ein Honorar erhalten. Finanzielle Vorteile als Resultat der Empfehlung bestimmter Psychotherapien zählen ebenso zu Interessenskonflikten. Der Patientin/ dem Patienten wird dann die optimale Therapie vorenthalten.1
Neue Version der S3-Leitlinie Angststörungen umfasst 92 Studien mehr
Im Jahr 2019 wurde die deutsche Leitlinie für Angststörungen aus dem Jahr 2014 (Bandelow et al. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 265:363-373, 2015) von insgesamt 35 Expert:innen überarbeitet. Bandelow war an der Verfassung der Version aus dem Jahr 2014 und auch an der Revision federführend beteiligt gewesen. Die erste Version der S3-Leitlinie für Angststörungen basiert auf rund 403 randomisierten kontrollierten Studien. Die neue Version der S3-Leitlinie für Angststörungen umfasst das Wissen aus 92 weiteren randomisierten kontrollierten Studien.1,2
Was Sie zur S3-Leitlinie für Angststörungen wissen sollten:1,2
- Angststörungen sollten mit Psychotherapie, pharmakologischen Medikamenten oder deren Kombination behandelt werden.
- Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) wird als psychologische Behandlung mit höchstem Evidenzgrad angesehen.
- Eine psychodynamische Therapie (PDT) wird empfohlen für folgende Fälle empfohlen:
- Die KVT ist nicht wirksam.
- Die KVT ist nicht verfügbar.
- Patienten ziehen die PDT der KVT vor.
- Medikamente der ersten Wahl für Angststörungen sind die selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI).
- Nach Remission sollte die Medikation für weitere 6-12 Monate fortgesetzt werden.
- Bei ausbleibendem Erfolg einer medikamentösen Therapie oder Psychotherapie, sollte die Behandlung auf den jeweils anderen Ansatz oder auf eine Kombination aus beiden Therapieansätzen umgestellt werden.
Wichtige Neuerungen der 2. Version der S3-Leitlinie für Angststörungen:1,2
- Empfehlungen zur Virtual-Reality-Expositionstherapie.
- Empfehlungen zu Internet-Interventionen.
- Empfehlungen zur systemischen Therapie.
Fazit für die Praxis:1
- Die Entwicklung von Leitlinien ist zeitaufwendig und bedarf verschiedener Kontrollmechanismen.
- Interessenskonflikte innerhalb der Leitlinien-Gruppe können dazu führen, dass der Patientin/ dem Patienten die optimale Therapie vorenthalten wird.
Referenzen:
1. Bandelow, Borwin, Prof. Dr., Psychiater, Psychologe und Psychotherapeut an der Universität Göttingen, SY-02-002 | Entwicklung von Leitlinien und deren Bedeutung für den praktischen Alltag, SY-02 | Relevanz von klinischen Studien und Leitlinien für die klinische Praxis, Berlin Brain Summit, CityCube Berlin, 09:00-10:30 Uhr, 01.06.2022.
2. Bandelow B. et al. (2022). The German Guidelines for the treatment of anxiety disorders: first revision. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 2022 Jun;272(4):571-582.