Auf dem Diabetes-Kongress 2021 stellte Dr. Simone von Sengbusch, Diabetologin und Leiterin der Studie zur Virtuellen Diabetesambulanz für Kinder und Jugendliche (ViDiKi), Fortschritte bei der Telemedizin vor. Im esanum-Interview berichtet sie über die nahe Zukunft der Diabetes-Typ-1-Versorgung.
esanum: Frau Dr. von Sengbusch, der Anteil moderner technologischer Hilfsmittel in der Therapie von Kindern mit Diabetes Typ 1 ist hoch und nimmt zu. Was gibt es noch zu verbessern?
von Sengbusch: Der Anteil der jungen Patienten, die einen Glukosesensor zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) nutzen, ist sehr hoch. Die meisten Kinder nutzen auch schon eine Insulinpumpe. Die Insulinpumpe kann mit einem CGM kombiniert werden. Eine Software, die sich z.B. in der Insulinpumpe oder in einem Handheld befinden kann, steuert dann die Insulinabgabe anhand der Sensorwerte. Dies nennt man AID-System (Automatisierte Insulindosierung). Die Insulintherapie wird durch diese Technologie sicherer und unterstützt den Patienten, ist aber keine technische Heilung. Die basale Insulinabgabe der Insulinpumpe kann schon seit einigen Jahren von einem Glukosesensor gestoppt werden, wenn der Zucker fällt. Seit ca. 1,5 Jahren gibt es Insulinpumpen, die mehr leisten, und die basale Insulingabe der Insulinpumpe automatisch steuern. Wir erwarten nun in Kürze Systeme, die zusätzlich erhöhte Glukosewerte korrigieren können, die vor allem rund um Mahlzeiten auftreten. Gerade Kinder, die am längsten mit der Erkrankung leben müssen, sind auf solche Technologien angewiesen, die helfen, eine stabile und gute Stoffwechsellage zu erreichen. Ich gehe davon aus, dass die neuen AID- Insulinpumpen dieses Jahr auf den Markt kommen. In anderen europäischen Ländern sind solche Systeme schon auf dem Markt.
esanum: Und wie kommt die neue Technik dann in die Breite?
von Sengbusch: Zunächst müssen wir als Diabetesteams auf jede neue AID-Pumpe geschult werden und dann das am besten geeignete AID-Pumpensystem für die Familien und ihr betroffenes Kind finden. Wenn ein Kind oder Erwachsener mit Typ 1 Diabetes aber mit seiner bisherigen Therapie sehr gut läuft, kann er auch dabeibleiben. Doch bei denen, die das Therapieziel nicht erreichen, wo die Glukose schwankt oder der HbA1c-Zielbereich nicht erreicht wird, sind diese neuen hochautomatisierten AID-Systeme ganz ideal.
esanum: Was sind die entscheidenden Vorteile?
von Sengbusch: Die jetzt schon verfügbaren Algorithmen in sensorgesteuerten Insulinpumpen sorgen dafür, dass die Basalrate über die Pumpe automatisch passend abgegeben wird. Die Pumpe entscheidet alle paar Minuten, wieviel Insulin jetzt benötigt wird, um einen eingestellten Zielbereich zu halten. Das ist insbesondere für die Nacht ein enormer Vorteil. Die neuen Algorithmen der AID-Insulinpumpen reagieren dann zusätzlich mit einer unterstützenden Insulinkorrektur, wenn zum Beispiel bei einer Mahlzeit die Glukose schnell steigt und gleichen diesen Anstieg bis zu einem gewissen Grad automatisch aus. Das ist ein enormer Fortschritt.
esanum: Welche Vorteile bietet die Videosprechstunde für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes?
von Sengbusch: Ich habe von 2017 bis 2020 die ViDiKi-Studie geleitet, die das untersucht hat. Unsere Studie hat gezeigt: Die Stoffwechsellage der Kinder verbessert sich und die Familien werden entlastet. Das Diabetesteam muss ein stabil und gut eingestelltes Kind mit Typ 1 Diabetes vielleicht noch ein- oder zweimal im Jahr sehen, alles andere geht per Video. Für die Kinder, die hingegen mehr Kontakt zum gesamten Diabetesteam brauchen, haben wir so dann auch mehr Zeit in der Spezialambulanz.
Die Unterlagen liegen jetzt bei Gemeinsamen Bundesausschuss. Und wir hoffen, dass es die Empfehlung gibt, die Videosprechstunde in die Regelversorgung einzuführen und entsprechende Abrechnungsmöglichkeiten zu schaffen.
esanum: Wie zufrieden sind die Eltern der jungen Patientinnen und Patienten?
von Sengbusch: Die Eltern waren von dieser Art der Betreuung begeistert. Termine, die der Datenbesprechung und Insulinanpassung dienen, kann man so auf ideale Weise durchführen. Sie müssen nirgends hinfahren, um sich mit dem Diabetesteam die Daten anzusehen, die ohnehin in der Cloud stehen.
esanum: Wie stellen Sie sich die Versorgungszukunft bei Diabetes-Typ-1 vor?
von Sengbusch: Zum Beispiel so: Das Kind wird auf eine hochautomatisierte AID- Insulinpumpe eingestellt. So ein Therapiestart muss natürlich begleitet und nachbetreut werden. Diese Termine kann man per Videosprechstunde anbieten. Oder ein Kind ist neu mit Typ-1-Diabetes manifestiert. Das ist erstmal ein Schock für die Familie. Da entstehen jeden Tag viele Fragen. Also könnte man am Anfang, nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, zunächst wöchentlich einen kurzen Videotermin machen, der Sicherheit gibt. Eine weitere Option wäre eine digitale Klinik. Das haben sich auch die meisten Studienteilnehmer gewünscht. Sie möchten jeden Monat einen virtuellen Kontakt mit immer dem gleichen Ansprechpartner und ein- oder zweimal im Jahr in die Ambulanz kommen. Rezepte wollen sie dann auch per Post oder elektronisch zugeschickt bekommen. Zum Einlesen der Versichertenkarten müssen Experten sich etwas einfallen lassen. Aber da bin ich ganz zuversichtlich.
esanum: Beherrschen denn alle Patienten und Ärzte diese Technik der Videosprechstunde souverän?
von Sengbusch: Da hat Corona ganz viel Anschub geleistet. Alle haben dazugelernt. Als wir vor vier Jahren mit der Studie anfingen gab es drei Videoportalsysteme. Heute sind das drei eng bedruckte Seiten auf der Website der KBV, unter denen man ein zertifiziertes Portal wählen kann. Aber das Problem war am Anfang nicht die Technik der Videosprechstunden, sondern die schwache Internetabdeckung im ländlichen Raum. Inzwischen haben wir auch dafür Lösungen. Es hat in sehr kurzer Zeit einen digitalen und technischen Quantensprung gegeben, der der Gesundheit nützen wird