esanum: Professor Blüher, Sie haben auf dem DDG-Kongress über Gewichtsreduktion mit GLP-1-Rezeptoragonisten referiert. Was sind Ihre Hauptpunkte?
Prof. Blüher: Im Moment spielt die medikamentöse Therapie der Adipositas in Deutschland leider eine untergeordnete Rolle. Das liegt zum einen daran, dass die entsprechenden Medikamente nicht durch gesetzliche Krankenkassen erstattungspflichtig sind. Und zum anderen daran, dass die gewichtsreduzierenden Effekte der bislang verfügbaren Medikamente nicht besonders groß sind. Das kann sich aber jetzt ändern. Denn wir haben nun mit Semaglutid ein Medikament, dass doppelt so potent ist wie das bisher wirksamste Adipositasmedikament Liraglutid. Wir sehen mit Semaglutid 17% Gewichtsreduktion im Mittel. Und wir haben die Aussicht, dass die GLP-1-basierten Therapien in Zukunft Konkurrenz bekommen von den dualen Inkretin-Agonisten. Das Tirzepatid ist in Amerika für den Typ-2-Diabtetes gerade zugelassen worden. Damit haben die Probanden im Mittel 22,5% abgenommen. Das ist nahe der Größenordnung, die bisher nur durch chirurgische Therapie möglich war.
esanum: Diese sehr wirksamen Medikamente sind aber für Adipositas nicht erstattungsfähig?
Prof. Blüher: Genau. Das entspricht unserem Sozialgesetzbuch, welches besagt, das Medikamente zur Zügelung des Appetits und zur Gewichtsreduktion gleichgesetzt sind mit Mitteln gegen Haarausfall oder zur Verbesserung der Potenz. Als Adipositasforscher finde ich das nicht in Ordnung. Denn Adipositas ist als Erkrankung definiert und anerkannt. Aber die Möglichkeit, sie zu behandeln wie andere chronische Erkrankungen auch, wird uns genommen. Viele Selbsthilfegruppen und wissenschaftliche Fachgesellschaften wie die DDG machen sich dafür stark, dass sich das ändert.
esanum: Das DDG-Symposium, in dessen Rahmen Sie sprachen, hatte das Motto "GLP-1 und mehr: Multitalente im Aufwind". Was steckt hinter der Bezeichnung "Multitalente"?
Prof. Blüher: GLP-1-Agonisten sind tatsächlich vielfältig wirksam. Zu jedem Komplex von Erkrankungen, bei denen GLP-1-Rezeptoragonisten gut wirksam sein können, gab es einen Vortrag. Es ging um Blutzuckersenkung in der Therapie von Typ-2-Diabetes, um die Herz-Kreislaufschutzfunktion, sowie um Gewichtsreduktion. Und es wird wohl in Zukunft auch die Möglichkeit geben, mit GLP-1-Rezeptoragonisten Fettlebererkrankungen zu behandeln.
esanum: Lassen Sie uns auf die tägliche Versorgung der Patientinnen und Patienten mit Typ-2 Diabetes in der hausärztlichen Praxis blicken: Welchen Stellenwert haben hier die GLP-1-Rezeptoragonisten?
Prof. Blüher: Der Stellenwert der GLP-1-Agonisten wurde in der Nationalen Versorgungsleitlinie für die Diabetes-Therapie erheblich aufgewertet. Sie wird als Ersttherapie parallel mit Metformin für Menschen mit sehr hohem kardiovaskulärem Risiko empfohlen.
esanum: Bei welchen Patienten bzw. in welcher klinischen Situation würden Sie aktiv darüber nachdenken, auf einen GLP-1-Rezeptoragonisten zu wechseln oder ihn zur bestehenden antidiabetischen Medikation hinzuzufügen?
Prof. Blüher: Bei Patienten, die schon ein Herzkreislauf-Ereignis wie Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten haben. Bei ihnen ist die Wirkung besonders gut untersucht und besonders stark. Und in der klinischen Praxis nutze ich die Medikamente bei Menschen, die neben dem Diabetes auch Übergewicht haben.
esanum: Haben Sie aus Ihrer fachlichen Perspektive als Stoffwechselforscher einen praktischen Tipp für die hausärztlichen Kolleginnen und Kollegen hinsichtlich der Versorgung der Patienten mit Typ-2 Diabetes?
Prof. Blüher: Ich empfehle zunächst, die klassischen Therapiesäulen der Verhaltensintervention wie körperliche Aktivität und gesunde Ernährung nicht zu vernachlässigen - also nicht alles den Medikamenten zu überlassen. Und der zweite Punkt ist: konsequent und frühzeitig, also ohne Verzug, die leitliniengerechte Therapie von Menschen mit Typ-2-Diabetes so effizient wie möglich zu gestalten. Das heißt, die Kombination aus Metformin und SGLT-2-Hemmern oder GLP-1-Rezeptoraginisten zügig einzusetzen. Die Versorgungsforschung zeigt, dass es in der Praxis leider immer noch zu Verzögerungen der Therapieintensivierung kommt, die nicht leitliniengerecht sind.
"Es geht darum, konsequent und frühzeitig und ohne Verzug die leitliniengerechte Therapie von Menschen mit Typ-2-Diabetes so effizient wie möglich zu gestalten. Das bedeutet, die Kombination aus Metformin und SGLT-2-Hemmern oder GLP-1-Rezeptoraginisten zügig einzusetzen. Die Versorgungsforschung zeigt, dass es in der Praxis leider immer noch zu Verzögerungen der Therapieintensivierung kommt, die nicht leitliniengerecht sind."