Eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten könnte in Deutschland den größtmöglichen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leisten. Patientinnen und Patienten zu gesünderer Ernährung zu bewegen, stellt für Prof. Dr. med. Sebastian Schellong, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin DGIM, ein unmittelbar ärztliches Anliegen dar. Im esanum-Interview spricht er über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Innere Medizin und gibt Einblicke in den ersten vollständig digitalen DGIM-Kongress in Zeiten von COVID-19.
esanum: Professor Schellong, in einer aktuellen Pressemitteilung der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit KLUG e.V. werden Sie zitiert mit „Investitionen in Klimaschutz sind letztendlich Investitionen in bessere Gesundheit“. Welche Maßnahmen müssten Ihrer Ansicht nach jetzt ergriffen werden, um besser für Klimawandel-bedingte, gesundheitliche Herausforderungen gewappnet zu sein?
Schellong: Die Pressemeldung bezieht sich auf eine Studie, die in der vorherigen Woche im Lancet Planetary Health erschienen ist. Der Studie liegt eine sehr ausführliche Modellierung für neun verschiedene, repräsentative Länder zugrunde. In den Untersuchungen wird versucht zu modellieren, welche gesundheitlichen Auswirkungen welche Teilbereiche haben, wenn man bei der Einhaltung oder Erreichung der Klimaziele gesundheitliche Aspekte stärker in den Fokus rückt. Die Lancet Studie ist damit einen neuen Weg gegangen und hat die Frage aufgebracht: Was erreichen wir für den Klimawandel, wenn wir in die Erreichung von Klimazielen gesundheitliche Aspekte integrieren und primär auf Gesundheit achten? Das ist also die Umkehr der sonstigen Herangehensweise. Auf diese Weise kommt heraus, dass die Bemühung um eine gesunde Lebensweise und die Bemühung um die Reduktion der Erderwärmung wechselseitig ineinander verzahnt sind.
esanum: Sind bestimmte Krankheitsbilder der Inneren Medizin von Effekten des Klimawandels besonders betroffen?
Schellong: Die Auswirkungen des Klimawandels auf chronisch Kranke sind insofern evident, als diese bei Extremwetterlagen eher an ihre Dekompensationsgrenzen gelangen. Hierzu zähle ich Patienten mit Grunderkrankungen des Herzens oder der Lunge, ebenso das ganze Bevölkerungssegment der frial elderly, also diejenigen, die nur eine sehr enge Variationsbreite in ihrem Flüssigkeitshaushalt haben. Bei geringem Körpergewicht im Alter dekompensiert der Flüssigkeitshaushalt durch extreme Hitzeperioden, von denen wir immer mehr haben. Das Gleiche betrifft auch die große Kohorte von Patienten mit Herzinsuffizienz, die ebenfalls bei extremen Wetterlagen leicht an ihre Belastungsgrenze gelangen. Natürlich haben auch alle Faktoren, die den Klimawandel beschleunigen, etwas mit der Luftqualität zu tun, selbstredend sind diese Auswirkungen für chronisch Lungenkranke besonders schlimm. Bei der Lancet-Studie ging es darum, zu sagen: Wenn wir uns in den Bemühungen stärken, eine gesunde Lebensweise zu führen, dann sind wir gewissermaßen auch auf der Spur, aktiv dem Klimawandel entgegenzuwirken.
esanum: Sehen Sie bei Ärztinnen, Ärzten und allen anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Gesundheitswesen eine besondere Verantwortung, Maßnahmen zur Abschwächung der Klimakrise zu ergreifen?
Schellong: Ohne die Stellung des Arztes überhöhen zu wollen: Die Studie zeigt auf, wie nah Ärzte an diesem Thema dran sind, auch in der praktischen Umsetzung. Wenn man etwas genauer auf die Studiendaten eingeht, wird der Einfluss verschiedenster Maßnahmen sichtbar – vom Energiesektor bis zur Landwirtschaft. Faszinierend ist es am Beispiel Deutschland, dass der Aspekt der Ernährung und der Umstellung der Landwirtschaft den allergrößten Effekt hat – viel größer als beispielsweise die Sektoren „Transportmittel“ oder „Energie“. Das hat mich selbst überrascht. Gerade in Deutschland haben wir also den größten Einfluss, wenn wir tatsächlich auf eine gesunde Ernährung achten.
Das ist ein unmittelbar ärztliches Anliegen. Dafür muss man nicht einmal ein besonders überzeugter Klimawandel-Besorgter sein. Wenn Ärzte ihre Beratung weiter und stärker auf diesen Aspekt der Ernährung legen – was sie aus verschiedensten Gründen sowieso tun sollten – dann sind sie auch schon Klimaaktivisten. Das ist eine besonders gute und praktische Lehre, die wir aus der neuen Studie ziehen können. Aspekte wie beispielsweise eine Reduktion des Konsums von rotem Fleisch sind Dinge, die wir sowieso empfehlen und weiterhin mit Nachdruck empfehlen sollten. Je nach Zielpublikum und Gestimmtheit der Patienten, mit denen wir zu tun haben, können wir diese Empfehlungen in die allgemeine Besorgnis um den Klimawandel einbetten.
esanum: Vom 17. bis zum 20. April 2021 findet der 127. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin statt – COVID-19 bedingt erstmals in vollständig digitaler Form. Was wird dieses Jahr anders?
Schellong: Das Allerwichtigste ist, dass wir gar keine Präsenzveranstaltungen haben. Das stellt einen großen Einschnitt in der über 100-jährigen Kongressgeschichte dar. 2020 war eines der wenigen Jahre, in denen wir überhaupt keinen Kongress hatten. Das hat es sonst nur zu Kriegszeiten gegeben. Dieses Mal haben wir uns natürlich vorbereitet und halten dementsprechend zum ersten Mal in unserer Geschichte einen komplett digitalen Kongress ab. Wir haben die Möglichkeit eines hybriden Kongresses verworfen, weil wir überhaupt nicht absehen konnten, ob Referenten und Vorsitzende persönlich anwesend sein oder irgendwelche Tätigkeiten hybrid vor Ort durchgeführt werden können. Ich denke, das war eine richtige Entscheidung. Je näher der Termin rückt, umso geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Mitglieder treffen und versammeln können. Es ist ein riesengroßes Abenteuer, den gesamten Kongress auf ein digitales Format umzustellen. Auf der anderen Seite haben wir mit unseren Kongress- und Medienpartnern einen sehr großen Erfahrungsschatz. Trotzdem ist es für uns eine große, spannende Aufgabe, weil wir nach wie vor über 400 Einzelveranstaltungen mit mehr als 1.000 Beteiligten haben. Das alles zu koordinieren, wird sehr spannend.
esanum: Der DGIM-Kongress 2021 steht unter dem Motto „Von der Krise lernen“. Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten medizinischen Erkenntnisse aus der Corona-Krise?
Schellong: Die Corona-Krise hat viele verschiedene Aspekte. Was unser Handwerk als Internistinnen und Internisten elementar betrifft, ist, dass eine neue Krankheit auf den Plan getreten ist, die wir als Krankheit verstehen müssen. Hier wird viel neues Wissen gebraucht, das sich praktisch wöchentlich verändert im Hinblick auf elementare medizinische Erkenntnisse, die wir in die Prävention, Diagnostik, Behandlung und vor allem auch die Nachsorge von Patienten einfließen lassen müssen. Das müssen wir lernen. Deshalb habe ich den Ausdruck „Von der Krise lernen“ gewählt, um zu zeigen, dass wir die Situation zum Positiven wenden müssen: Diese Krise ist ein Lehrmeister, den wir akzeptieren müssen, weil er eben vorhanden und so übermächtig ist, aber den wir auch akzeptieren sollten, weil viele neue, für uns alle wichtige Dinge daraus hervortreten. Das ist der rein medizinische Teil.
Zusätzlich aber haben wir durch die Veränderung der Gesundheitsversorgung, die uns durch die Krise aufgezwungen wurde, viele Erfahrungen gemacht, die wir unbedingt für die weitere Gestaltung des Gesundheitswesens berücksichtigen sollten. Schon vor der Krise gab es den gefühlten Zustand, dass eine Diskrepanz existiert zwischen dem, was wir eigentlich leisten wollen, und dem, was wir mit den zur Verfügung stehenden Mitteln leisten können. Jetzt wurden wir durch die Krise gezwungen, ganze Leistungsbereiche umzustellen und es hat sich plötzlich gezeigt, wie schnell das Alles mit gesundem Menschenverstand und gutem Willen geht, einfach weil die Notwendigkeit da ist. Dabei ist viel Kooperationswille und Flexibilität aufgekommen, Konkurrenzthemen hingegen sind eher beiseitegetreten.
Was mir besonders wichtig ist und was auf unser ursprüngliches Kongressthema „Weniger ist mehr“ zurückgeht: Wir haben auf einmal eine Situation, in der viele Leistungen, die wir bisher sowohl stationär als auch ambulant in großer Zahl erbracht haben, jetzt weniger durchgeführt wurden. Wir müssen unbedingt versuchen zu lernen, was das für die Patienten bedeutet: Ist dort für die Patienten Schaden entstanden? Oder gibt es Leistungen, die für Patienten vielleicht gar nicht in der Form nötig gewesen wären? Das muss man differenziert betrachten, aber es gab schon vor der Corona-Krise eine ausführliche Beschäftigung mit so genannter „Low-Value-Medizin“, also medizinischen Maßnahmen, die einen geringen Wert für die Gesundheit der Patienten haben. Vielleicht haben wir es ja in der Corona-Krise ohne äußere Vorgaben geschafft, besonders auf diese Low-Value-Maßnahmen zu verzichten.
esanum: Im Dezember 2020 hat die DGIM die neue Kommission „Digitale Transformation in der Inneren Medizin“ ins Leben gerufen. Wie geht der Digitalisierungsprozess bislang vonstatten?
Schellong: Hier kann man direkt anschließen an die Corona-Krise: Viele Dinge, die wir uns schon lange vorgenommen hatten und die in der Umsetzung schwierig erschienen, sind jetzt innerhalb weniger Wochen geschehen, zum Beispiel das Thema Videosprechstunde. Allein der Austausch mit Patienten oder verschiedener Leistungserbringer untereinander ohne die persönliche Begegnung ist ein Digitalisierungsschub, der so schnell vonstattengegangen ist, wie wir ihn uns in unseren kühnsten Planungen gar nicht vorstellen konnten.
Ein weiterer Punkt: Durch die Digitalisierung ist die Aufgeschlossenheit vielen Medien gegenüber wesentlich größer geworden. Dadurch, dass wir uns auch in der wissenschaftlichen Gemeinde überwiegend nur noch digital treffen, ist hier also eine große Akzeptanz für dieses Medium entstanden. Das ist auch wichtig für die Akzeptanz aller anderen digitalen Projekte, die sowieso in der Planung waren, zum Beispiel die elektronische Patientenakte. Natürlich gab und gibt es auch hier große Vorbehalte und es kann zu großen technischen Pannen kommen, aber die Aufgeschlossenheit der e-Akte gegenüber und auch die Einsicht ihrer Notwendigkeit ist deutlich gewachsen. Das ist eine großartige Entwicklung.