esanum: Prof. Thiele, nationale Versorgungsleitlinien sollen unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Evidenz und hochwertiger Studien Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie festlegen. In der neuen nationalen Versorgungsleitlinie zur koronaren Herzkrankheit gibt es von Ihnen, als Präsident der DGK und Vertreter weiterer Fachgesellschaften, nun starke Kritik. Sie haben entschieden, dieser nationalen Versorgungsleitlinie nicht zuzustimmen. Was hat Sie dazu veranlasst?
Prof. Thiele: Ja, zunächst einmal möchte ich sagen, dass nationale Versorgungsleitlinien darauf abzielen, für Volkskrankheiten wie die koronare Herzkrankheit evidenzbasierte Leitlinien zu entwickeln. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie hat in der Vergangenheit stets aktiv an der Entwicklung dieser Leitlinien mitgewirkt. Bei der Erstellung der neuen Leitlinie zur koronaren Herzkrankheit konnten wir jedoch vielen Empfehlungen nicht zustimmen.
Nach dem Regelwerk der AWMF, das die Leitlinien koordiniert, gibt es die Möglichkeit, abweichende Meinungen zu kommentieren. Häufig wurden diese jedoch nur als Randnotizen aufgenommen. Deshalb haben wir im Vorstand nach Diskussion mit der Kommission für Klinische Kardiovaskuläre Medizin beschlossen, ebenso wie die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation und auch die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin, der Leitlinie insgesamt nicht zuzustimmen, da wir der Ansicht sind, dass ihre Umsetzung potenziell patientengefährdend ist.
esanum: Das bedeutet, Ihre Fachkollegen konnten sich nicht in der Ausarbeitung der Leitlinien durchsetzen?
Prof. Thiele: Genau, das liegt auch an den bestehenden Regelungen für die Leitlinienerstellung. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie setzt sich dafür ein, diese Regelungen in Zukunft zu adaptieren. Momentan sind in einer nationalen Versorgungsleitlinie schnell mal bis zu 20 verschiedene Fachgesellschaften vertreten, die alle das gleiche Stimmrecht haben. Das klingt zunächst fair, jedoch führt dieses Prinzip dazu, dass auch Fachgesellschaften, die nur peripher zum Beispiel mit der koronaren Herzerkrankung zu tun haben, eine gleichgewichtige Stimme besitzen. Dadurch können Empfehlungen ausgesprochen werden, die für Kardiologen schwer tragbar sind.
esanum: Lassen Sie uns auf die einzelnen Kritikpunkte eingehen. Zum Beispiel auf die Beschreibung der Symptomatik.
Prof. Thiele: Ja, die Symptomatik bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit variiert. Viele Betroffene sind asymptomatisch, doch die gängigen Symptome sind Angina pectoris, also ein typischer Druck auf der Brust, sowie Luftnot. Luftnot wurde in der aktuellen Leitlinie bei der Einschätzung oder Vorhersage einer koronaren Herzerkrankung jedoch nicht berücksichtigt. Dabei ist bekannt, dass Patienten mit Luftnot ein höheres Sterberisiko aufweisen als solche mit typischer Angina pectoris. Aus kardiologischer Sicht ist es daher entscheidend, Luftnot als Symptom in Betracht zu ziehen, um den Verdacht auf eine koronare Herzerkrankung stellen zu können. Diese wichtige Erkenntnis wurde in der Leitlinie ignoriert.
esanum: Ein zweiter Punkt ist der Umgang mit Herz-Katheter-Untersuchungen. Was gibt es da zu bemängeln?
Prof. Thiele: Als derzeitiger Präsident muss ich anmerken, dass die Kardiologie in Deutschland in der Vergangenheit bei Herz-Katheter-Untersuchungen nicht immer das beste Bild abgegeben hat. Deutschland führt weltweit die meisten Herz-Katheter-Untersuchungen und Ballonaufdehnungen mit Stent-Implantationen durch. Dies liegt nicht an den Kardiologen alleine, sondern ist vor allem ein Systemfehler. Politisch ist es uns in Deutschland nicht gelungen, die Anzahl der Krankenhäuser mit Katheterlabor im Vergleich zu anderen Ländern zu regulieren. Unser DRG-System fördert zudem eher lukrative Eingriffe, was nicht nur bei Kathetern, sondern auch bei anderen Operationen wie Knie- oder Hüftgelenksersatz zu beobachten ist. Diese Struktur hat die deutsche Kardiologie kritisch zu hinterfragen. Die neue Leitlinie versucht nun, die Hürden für Katheter- und Ballonaufdehnungsverfahren zu erhöhen, was prinzipiell sinnvoll ist, aber evidenzbasiert erfolgen muss. Laut der nationalen Versorgungsleitlinie müssen Patienten in Zukunft vor einem Kathetereingriff eine Zustimmung zur Bereitschaft einer Bypass-Operation unterschreiben, andernfalls soll der Kathetereingriff nicht durchgeführt werden.
esanum: Aha, dann wirft man sozusagen zwei Dinge auf einen Haufen.
Prof. Thiele: Genau. Natürlich sehen wir als Kardiologen die Notwendigkeit einer Bypass-Operation bei den richtigen Patienten, das steht außer Frage. Aber wenn man bedenkt, dass nur etwa fünf Prozent aller Patienten mit einer koronaren Herzerkrankung tatsächlich eine Bypass-Operation benötigen, ist es widersinnig, von allen Patienten im Voraus eine Zustimmung für eine Bypass-Operation zu verlangen. Auch vor dem Hintergrund, dass viele Patienten zum Beispiel wegen des Alters oder wegen Komorbiditäten gar keine Bypass-Operation für sich in Betracht ziehen. Diesen Patienten dann eine invasive Diagnostik mit möglicher PCI bei starker Symptomatik vorzuenthalten, ist sicher nicht mit dem Grundgedanken ärztlichen Handelns zu vereinbaren.
Ein weiterer Punkt ist, dass wir bei einer Herzkatheteruntersuchung und dem Feststellen einer höhergradigen einfach zu behandelnden Engstelle, während der Patient typische Angina-pectoris-Beschwerden hat, normalerweise sofort einen Stent implantieren. Laut den neuen Leitlinien sollen wir den Patienten in solchen Fällen jedoch jetzt zunächst ablegen und eine Besprechung im "Herz-Team" durchführen – zusammen mit dem Hausarzt, Herzchirurgen und Kardiologen sowie dem Patienten –, um zu entscheiden, welche Art der Revaskularisation erfolgen soll. Das ist de facto patientengefährdend und praktisch nicht umsetzbar.
esanum: Weil zu viel Zeit vergeht?
Prof.Thiele: Zunächst einmal müsste man den Patienten ablegen und organisieren, dass der Hausarzt in die Klinik kommt, um gemeinsam mit dem Patienten die nächsten Schritte zu besprechen. Logistisch ist das kaum machbar, da der Hausarzt in seiner Praxis beschäftigt ist und nicht einfach hinzukommen kann. Zudem kann der Hausarzt in der Regel nicht beurteilen, welches Verfahren das beste ist – das ist die Aufgabe von Herzchirurgen und Kardiologen.
Laut den europäischen Leitlinien, die im Alltag befolgt werden, kann bei Patienten mit einer einfachen Eingefäßerkrankung und einer unkomplizierten Engstelle sofort ein Stent eingesetzt werden. Wenn wir jedoch alle Patienten auf diese Weise ablegen würden und der zusätzliche Prozess der sogenannten Herzteambesprechung, bei dem der Hausarzt – der eigentlich nicht zum Herzteam gehört – einbezogen wird, durchgeführt werden müsste, wäre das problematisch. Denn sollten die Entscheidungen nicht sofort getroffen werden, müsste man den Patienten erneut auflegen und eine erneute Punktion der Arterie vornehmen. Dies ist aus kardiologischer Sicht patientengefährdend, da der Patient unnötigen Eingriffen und einem verlängerten Krankenhausaufenthalt von ein bis zwei Tagen ausgesetzt wird. Daher können Kardiologen dieser Vorgehensweise nicht zustimmen.
esanum: Auch die cholesterinsenkende Therapie ist ja offenbar nicht differenziert genug abgebildet. Können Sie das kurz erklären?
Prof. Thiele: In den europäischen und amerikanischen Leitlinien wird empfohlen, bei Patienten mit koronarer Herzerkrankung eine zielwertorientierte Therapie durchzuführen. Für Hochrisikopatienten, zu denen alle Patienten mit koronarer Herzerkrankung gehören, sollte der LDL-Cholesterinwert medikamentös auf unter 55 mg/dL oder 1,4 mmol/L gesenkt werden. Diese Empfehlung findet sich in allen internationalen Leitlinien.
In der nationalen Versorgungsleitlinie wird jedoch als gleichwertige Therapieoption beschrieben, dass der Cholesterinwert einmal gemessen wird, ein Medikament verschrieben wird und anschließend keine Kontrollmessungen des Cholesterins mehr erfolgen, während das Statin weiterhin verordnet wird. Diese Praxis wurde international aufgegeben, da eine zielwertorientierte Therapie nicht nur die Patienten besser unter Kontrolle hält, sondern auch nachweislich Todesfälle und Myokardinfarkte signifikant reduzieren kann. Daher können Kardiologen diese Empfehlung der nationalen Leitlinie nicht unterstützen.
Die internationalen Leitlinien betonen zudem, dass zur Erreichung einer zielwertorientierten Therapie oft mehr als nur die Verordnung von Statinen erforderlich ist. Häufig ist eine sogenannte Stufentherapie notwendig, bei der zusätzliche Medikamente eingesetzt werden, um den LDL-Wert weiter zu senken, falls dies mit Statinen allein nicht ausreichend gelingt. Diese zusätzlichen Behandlungsoptionen werden in der nationalen Leitlinie jedoch nicht ausreichend berücksichtigt, obwohl entsprechende Medikamente verfügbar sind und in anderen internationalen Leitlinien als klare Optionen angeboten werden.
esanum: Und was ist mit den minimalinvasiven Herzkatheter-Eingriffen?
Prof. Thiele: Die Leitlinien betonen deutlich, dass die Bypass-Operation die einzige Therapie ist, die das Überleben verlängert und die Prognose verbessert. Diese Darstellung ist jedoch zu einseitig und berücksichtigt nicht alle Aspekte. Die prognoseverbessernde Wirkung der Bypass-Operation basiert auf einer einzigen randomisierten Studie aus den 1980er Jahren und dann vielen nachfolgenden Metaanalysen. Diese Studie wurde durchgeführt, bevor die heutige medikamentöse Therapie zur Behandlung der koronaren Herzerkrankung entwickelt wurde, und ist daher mittlerweile veraltet.
Es ist aber sicher unbestritten, dass die Bypass-Operation bei Patienten mit schwerer koronarer Herzerkrankung Infarkte verhindern kann. Ein wichtiger Punkt, der in den neuen Leitlinien jedoch weitgehend ignoriert wird, ist die Fähigkeit der perkutanen Koronarintervention (PCI), auch Infarkte zu reduzieren. Der Effekt der PCI ist zwar bei ausgeprägter koronarer Herzerkrankung weniger stark als bei einer Bypass-Operation, aber dennoch vorhanden und durch mehrere Studien und Meta-Analysen belegt. Dieser Aspekt wird in den Leitlinien jedoch vollständig übersehen.
Bei der Revaskularisation der koronaren Herzerkrankung bei symptomatischen Patienten gibt es zwei Optionen: die Bypass-Operation und die PCI (perkutane Koronarintervention). Die Bypass-Operation hat bei schwerer koronarer Herzerkrankung ohne Frage – und das wird auch von Kardiologen betont – einen hohen Stellenwert. Ein beträchtlicher Anteil der Patienten leidet jedoch nicht an einer schweren Form der Krankheit. In diesen Fällen hat die PCI nicht nur einen symptomverbessernden, sondern auch einen kleinen prognostischen Effekt.
esanum: Wie geht es nun weiter? Sie lehnen die Leitlinie ab. Was passiert mit ihr jetzt, alles für die Tonne?
Prof. Thiele: Es bleibt abzuwarten, wie die Politik auf diese Situation reagieren wird. Die nationale Versorgungsleitlinie (NVL) bildet die Grundlage für die Umsetzung der sogenannten Disease Management Programme (DMPs) in Deutschland, die insbesondere für Hausärzte von Bedeutung sind. Es bleibt abzuwarten, wie die Politik die aktuelle Kritik interpretiert: Ob sie die Einwände unserer Fachgesellschaft – die über die höchste Expertise in Bezug auf dieses Krankheitsbild verfügt – einfach ignoriert oder die DMPs für koronare Herzkrankheiten unverändert umsetzt.
Ein entscheidender Punkt ist auch, dass die Lebenserwartung in Deutschland um 1,8 Jahre niedriger ist als in anderen westeuropäischen Ländern, was vor allem auf erhebliche Defizite in der Primär- und Sekundärprävention zurückzuführen ist. Setzen wir die nationale Versorgungsleitlinie unverändert um, wird sich diese verringerte Lebenserwartung weiter verfestigen, und unser Abstand zu den anderen westeuropäischen Ländern wird sich weiter vergrößern. Deshalb haben wir uns in einer bisher einmaligen Aktion dazu entschlossen, diese Leitlinie nicht zu unterstützen, da sie letztendlich potentiell patientengefährdend ist.
Professor Dr. med. Holger Thiele ist Internist, Kardiologe und Angiologe, der über zusätzliche Qualifikationen in der Internistischen Intensivmedizin, fachgebundenem MRT und der Notfall- sowie Rettungsmedizin verfügt. Er leitet die Kardiologie an der Universitätsklinik des Herzzentrums Leipzig, einem der größten universitären Zentren für Kardiologie in Deutschland, und bekleidet eine Professur an der Universität Leipzig. Zudem ist er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie.