Die 115. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin will die ganze Breite der Pädiatrie abbilden - mit der Möglichkeit zum interdisziplinären Austausch. Das ist Kongresspräsidentin Prof. Dr. Ingeborg Krägeloh-Mann ein großes Anliegen. esanum sprach vorab mit der Neuropädiaterin über relevante wissenschaftliche Inhalte des Kongresses.
esanum: Frau Prof. Krägeloh-Mann, dieses Jahr tagt der Kongress für Kinder- und Jugendmedizin zum ersten Mal gemeinsam mit der Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP). Welche Aspekte bringen die Kollegen ein?
Krägeloh-Mann: Ich bin selbst Neuropädiaterin, es freut mich daher sehr, dass die GNP mitmacht. Es wurden bewusst interdisziplinäre Themen eingebracht - zum Beispiel das Thema Herz und Hirn, da geht es darum, bei welchen neurologischen Erkrankungen Kardiologen zu beteiligen sind. Oder chirurgische Aspekte bei Epilepsie bei Hirntumoren. Oder Aspekte der Neurointensivmedizin. Und jenseits dessen ist die Neuroplastizität ein Schwerpunkt.
esanum: Traditionell sind auch wieder die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin dabei, sowie die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie und nicht zuletzt der Berufsverband Kinderkrankenpflege Deutschland – wie zufrieden sind Sie mit der Zusammenarbeit mit den benachbarten Fächern?
Krägeloh-Mann: Sehr! Das zeigte sich auch in der Kongressvorbereitung in einem sehr offenen Austausch - zum ersten Mal gemeinsam ohne Sektionen für jede Gesellschaft. Bislang waren die Programme so organisiert, dass es gemeinsame Veranstaltungen gab und dazu wurden noch extra die Veranstaltungen der DGKJ, der Sozialpädiatrie, der Kinderchirurgen und der Pflege aufgelistet. Da gab es Überschneidungen bei den interdisziplinären Themen. Es war schwer, sich zu orientieren. Jetzt haben wir das Programm nach Tagen stringenter organisiert und jeweils durch die Logos gekennzeichnet, welche Gesellschaft beteiligt ist.
esanum: Und wie stellt sich die Zusammenarbeit im medizinischen Zusammenhang dar?
Krägeloh-Mann: Wir haben bewusst Hauptthemen gewählt, die für alle Gesellschaften sehr relevant sind. Es gibt traditionell immer drei Hauptthemen auf dem Kongress. Diesmal ist z.B. eines das Thema mehrfachbehinderte Kinder – hier gibt es interdisziplinäre Herausforderungen. Da sind die Kinderchirurgen und die Sozialpädiater ganz wesentlich dabei.
esanum: Stichwort mehrfachbehinderte Kinder in der stationären Versorgung - worum geht es konkret?
Krägeloh-Mann: Hier geht es nicht um die Diagnose der Grunderkrankung dieser Kinder, die ja zum Teil extrem selten und komplex ist. Es geht vielmehr um die Probleme, mit denen diese Kinder im klinischen Alltag erscheinen und typischerweise versorgt werden müssen. Zum Beispiel kommen sie mit akuten oder auch chronischen Problemen in die Kliniken, die nur stationär behandelt werden können. Und die dortigen Pädiater haben nicht immer eine sehr spezielle Weiterbildung. Sie sind dann im Alltag nicht nur mit den ohnehin komplexen Grunddiagnosen, sondern darüber hinaus mit weiteren speziellen Herausforderungen konfrontiert. Das betrifft Schmerzmanagement oder Ernährungsfragen und viele andere Fragen. Auch Infektionen können bei Kindern mit Mehrfachbehinderung einfach schwieriger ablaufen. Und es geht auch um das Thema, wo setzt man die ganzen intensivmedizinischen Möglichkeiten ein und wo muss man palliativ vorgehen? Also wo sind die Grenzen des für den Patienten Zumutbaren und Machbaren?
esanum: Welche Rolle wird diesmal die epidemiologische Forschung spielen? Im Programm ist von einem Paradigmenwechsel die Rede.
Krägeloh-Mann: Für viele Kliniker, die ja für einzelne Patienten verantwortlich sind, sind epidemiologische Forschungen oft nicht besonders interessant. Aber es gibt auch für den Alltag extrem relevante Forschungen an großen Kohorten, die man auf den einzelnen Patienten herunterbrechen kann. Hier gab es in den letzten Jahren so große Veränderungen, dass man sie als Paradigmenwechsel bezeichnen kann. Dazu haben wir drei Themen ausgewählt. Eines ist: 60 Prozent der Kinder mit Zerebralparese sind Frühgeborene und je früher die Kinder auf die Welt kommen, desto höher ist das Risiko aufgrund einer Gehirnschädigung Behinderungen zu entwickeln. Und da galt bislang, dass trotz intensivster Bemühungen der Intensivmedizin und der Neonatalmedizin die Rate der CP gleichbleibt. Es hieß, man könne an der Rate der Behinderungen nichts ändern. Jetzt können wir auf der europäischen Ebene zeigen, dass das überhaupt nicht stimmt, dass vielmehr die CP-Rate bei den Frühgeborenen seit 20 Jahren kontinuierlich sinkt. Die Einzelstudien, die oft nicht vergleichbar sind, haben das nicht hergegeben. Aber wir haben uns auf europäischer Ebenen zusammengetan, sodass die Daten nach einheitlichen Definitionen gesammelt wurden. Und jetzt sehen wir, dass die Fortschritte in der Intensivmedizin und der Neonatalogie führen dazu, dass die Frühchen nicht nur vermehrt überleben, sondern auch besser überleben. Das ist sehr wichtig als Hintergrundwissen in der Beratung der Eltern, wenn es um die Perspektive geht.
esanum: Was sind Schwerpunkte bei den innovativen Diagnostikverfahren?
Krägeloh-Mann: Das brisanteste ist das Thema der Screening-Untersuchungen auf der genetischen Ebene. Dazu haben wir eine niederländische Kollegin eingeladen, sie referiert zum Thema "omics, are you ready?" Bei einer unklaren Erkrankung musste man bislang immer genau wissen, welche diagnostische Idee man hat, und konnten dann der Genetiker bitten, in welchem Gen er nachschauen sollte. Es gibt aber nicht wenige Kinder, deren klinisches Bild nicht auf eine spezielle Erkrankung hinweist. Und in diesen Fällen ist es sehr gut, wenn der Genetiker auf eine Breite der möglichen Erkrankungen screenen kann. Der modernste Ansatz ist, auf alle bekannten pathogenen Mutationen zu screenen. Und damit eine Information zu haben, in welchen Genen etwas Auffälliges, gegebenenfalls Krankheitserklärendes zu sehen ist. Aber das Screening ersetzt nicht den Kliniker. Denn der muss dann mit der genauen Erfassung des klinischen Bildes mit beleuchten, ob es durch die gefundene genetische Veränderung erklärt wird. Das bringt neue Herausforderungen, der Kliniker muss nicht mehr primär die Differenzialdiagnose stellen, sondern hinterher beurteilen, ob der genetische Befund mit dem Patienten kompatibel ist. Und die Frage ist auch, was wir mit genetischen Informationen machen, die auf Krankheiten hindeuten, die erst mit 20 oder 30 Jahren auftreten. Wir haben es ja mit Kindern zu tun.
Ein weiterer Aspekt ist, dass der genetische Befund zeigt, wie die Krankheit im Genom codiert wird. Was für eine Ausprägung das Gen aber konkret funktionell in der Zelle hat, das ist damit noch nicht klar. Da muss man auf die Ebene des Proteins, des Stoffwechsels gehen. Dies wird zusammenfassend als Proteomics beziehungsweise Metabolomics bezeichnet – auf diesen Ebenen kann man dann jenseits der Genebene weiter untersuchen. Die Frage ist spannend, was das für uns in Zukunft bedeutet.
esanum: Nichtstoffgebundene Süchte beschäftigen Ihre Kollegen seit einigen Jahren zunehmend – gibt es hier neue Ansätze?
Krägeloh-Mann: Nun ist ja Spielsucht von der WHO als Krankheit anerkannt worden. Wir nehmen das auf und haben eine lustige Sitzung zusammen mit der Augsburger Puppenkiste, womit wir ein Präventionsprogramm starten. Dazu gibt ein Kollege aus dem Bereich der Suchtmedizin ein Update über die aktuellsten Daten zu nicht substanzgebundenen Süchten im Kinder- und Jugendalter.
esanum: Mit welchen Problemen kämpft ihr Fach derzeit – und werden sie sich im Kongress spiegeln?
Krägeloh-Mann: Die Intensität der Abläufe und der Leistungen nehmen auch bei uns stark zu. Wir müssen unsere Leistungszahlen ständig steigern, um uns finanziell zu stabilisieren. Das ist im ambulanten Bereich genauso wie im stationären. Die DRGs sind in der Pädiatrie eine sehr große Herausforderung. Die DGKJ versucht immer wieder, das Gesundheitsministerium und die Politik darauf hinzuweisen, dass wir trotz aller Bemühungen, die Pädiatrie im DRG-System abzubilden, da große Probleme haben. Das ist ein schwieriger Weg.
Die Pädiatrie ist immer ein attraktiver Bereich für junge Mediziner gewesen, obwohl wir nicht diejenigen sind, die am meisten verdienen. Dennoch haben auch wir damit zu kämpfen, Nachwuchs zu generieren, besonders für die ländlichen Bereiche, also immer weiter junge Menschen zu finden, die Kindermedizin machen wollen – unter den aktuellen Bedingungen. In Workshops wird das eine Rolle spielen.