Die Corona-Pandemie fordert die Neurologie in besonderer Weise heraus – das machten Experten auf dem DGN-Kongress deutlich. Gerade bei Intensivpatient:innen mit COVID-19 verdecke der pulmonale Verlauf oft bestehende Neuromanifestationen. Deswegen sollte aktiv danach gesucht werden.
"Neuroinflammatorische Prozesse spielen bei COVID-19 eine große Rolle", betonte Prof. Dr. Julian Bösel vom Klinikum Kassel auf dem diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Die SARS-CoV-2-infektionsassoziierte Enzephalopathie trete in gemischten Kohorten bei 7% der Patient:innen auf, in kritisch kranken Kohorten sogar bei 50 bis 70%, so Bösel weiter.
Verursacht wird sie durch Inflammation, Zytokine, vaskuläre Prozesse und Organversagen. Sie ist mit einer erhöhten Mortalität und Morbidität assoziiert. Die Therapie ist bislang weitgehend symptomatisch, immunmodulatorisch werden Steroide und Intravenöse Immunglobuline eingesetzt.
"Neuromanifestationen sind bei COVID-19-Intensivpatienten oft durch den pulmonalen Verlauf verdeckt. Deshalb müssen sie aktiv gesucht werden", erläuterte Bösel. Die häufigsten Manifestationen sind Enzephalopathien, Neuropathien und Schlaganfälle. Die therapeutische Antikoagulation ist bei COVID-19-Intensivpatienten nicht empfohlen. "Besteht der Verdacht auf Neuro-COVID-19, so sollte ein individuelles Neuromonitoring erfolgen – mit zerebraler Bildgebung und entsprechender Diagnostik", so Bösel.
"Falls die Patienten an die ECMO angeschlossen werden sollen, empfiehlt es sich, prophylaktisch eine CT-Bildgebung zu machen. Denn manchmal haben die Patienten schon kleine Blutungen." Gehen diese Patient:innen mit unentdeckten Blutungen an die ECMO, sind die Folgen katastrophal, warnte der Neurologe.
Eine COVID-19-Enzephalopathie sei in der Bildgebung allerdings nicht so einfach festzustellen, da es nicht immer spezifische Veränderungen gebe. Manchmal würden bilaterale oder diffuse Signalauffälligkeiten beschrieben, mitunter auch Balkenläsionen, sagte Bösel. "Sehr selten treten hämorrhagisch nekrotisierende Enzephalopathiearten auf – aber es gibt auch die völlig unauffällige MRT."
Auch zum Schlaganfallrisiko bei COVID-19 präsentierte Bösel verschiedene Studiendaten und schickte ein Fazit vorweg: Die Zahl der Schlaganfälle im Zusammenhang mit COVID-19 sei nicht so hoch, wie die Zahl der Publikationen vermuten lasse. "Zerebrovaskuläre Komplikationen, vor allem ischämische Schlaganfälle, kommen vor, sind aber eher selten und liegen bei einer Häufigkeit von einem bis zwei Prozent", berichtete Prof. Dr. Götz Thomalla vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).
Studiendaten zeigten aber auch, dass COVID-19 ohne Zweifel ein Risikofaktor für Schlaganfälle ist. So ergab eine schwedische Untersuchung mit 86.724 Patienten, dass das Risiko für einen Schlaganfall nach einer COVID-19-Infektion in der ersten Woche um das 6,2-fache, in der zweiten Woche um das 2,4-fache und in den Wochen 3 bis 4 um das 2,1-facher erhöht ist. "Das sind Patienten, die nicht stationär behandelt wurden, darunter auch solche, die sehr leichte COVID-19-Verläufe hatten", betonte Thomalla. Damit ist das Schlaganfallrisiko im Falle einer COVID-19-Infektion leicht höher als infolge einer Influenza.
Daten aus den USA zeigen, dass Patient:innen mit einem Schlaganfall im Zusammenhang mit COVID-19 im Durchschnitt älter waren und häufiger typische kardiovaskuläre Risikofaktoren aufwiesen: Hypertonie, Diabetes, Hypercholesterinämie, Vorhofflimmern, Herzinsuffizienz. Auswertungen der COVID-19-CVD-Registry der American Heart Association (AHA) zeigen ebenfalls ein erhöhtes Schlaganfallrisiko bei COVID-19-Patient:innen mit kardiovaskulären Risikofaktoren – jedoch keine Assoziation von höherem Lebensalter und Schlaganfallrisiko.
Thomalla berichtete in seinem Vortrag auch, dass es bei jüngeren COVID-19-Patient:innen ohne relevante kardiovaskuläre Risikofaktoren gehäuft zu großen thrombotischen bzw. embolischen Gefäßverschlüssen kam. Als mögliche Mechanismen werden bei diesen Patienten die prothrombotische Situation (Aktivierung des Gerinnungssystems), Hyperinflammation (Zytokinsturm) und auch eine direkte Endothelschädigung durch das Virus diskutiert.
Unabhängig von COVID-19-assoziierten Schlaganfällen habe die Pandemie die Schlaganfall-Versorgung hierzulande insgesamt verschlechtert, so Thomalla. Patient:innen mit vaskulären Notfall-Erkrankungen wurden davon abgehalten, eine Klinik aufzusuchen. Daten der BARMER aus der ersten Corona-Welle zeigten einen Rückgang der Schlaganfälle um 9% sowie um 15% bei Transitorischen Ischämische Attacken (TIA).
Rund um den Globus kam es zu einem Rückgang der stationären Aufnahmen von Schlaganfallpatient:innen: Daten aus 70 Ländern zeigen eine Abnahme um 12% bei stationären Schlaganfallbehandlungen, um 13% bei der Zahl der Thrombolysen sowie um 12 bis 19% bei den durchgeführten Thrombektomien.
Zugleich stieg die Sterblichkeit an, wie eine Analyse von Totenscheinen in England und Wales für den Zeitraum 2014 bis 2020 ergab: plus 35% für die kardiovaskuläre Mortalität zu Hause und plus 32% für die kardiovaskuläre Mortalität in Pflegeheimen. Mit einem Anteil von 36% war der Schlaganfall dabei die häufigste Todesursache.
Quelle:
94. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie: Symposium "COVID-19", 03.11.2021