ME/CFS ist die Abkürzung für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome – der Begriff sei ebenso unscharf wie die Symptomatik selbst, erklärt Prüß. Patienten mit dieser Erkrankung beschrieben besonders häufig Fatigue, Schmerzen, Schlafstörungen und Gedächtnisstörungen. Aber das Leitsymptom, das alle ME/CFS-Patienten gemeinsam hätten, sei die Post-Exertional Malaise (PEM). Bereits nach leichter Belastung wie einem Spaziergang um das Haus, seien die Patienten mehr als 24 Stunden "platt" und müssten im Bett liegen.
"Obwohl es diese Erkrankung seit 50 Jahren gibt, wissen wir eigentlich nicht wirklich, warum sie entsteht", gibt Prüß zu. "Wir haben auch keine eindeutigen Biomarker, wo jeder sagen könnte, das ist ME/CFS und wir haben leider auch keine Therapie.“
Ein Problem auf dem Weg zur richtigen Diagnose und Therapie seien die vielen Differenzialdiagnosen auch aus der Rheumatologie, Endokrinologie, Psychiatrie, Neurologie, Infektiologie, Gastroenterologie und anderen Fachbereichen. Viele Patienten hätten neurologische oder psychiatrische Komorbiditäten wie Angststörungen oder Depressionen, die aber auch Risikofaktor für die Entstehung von ME/CFS sein könnten. Hinzu komme, dass die wenigen Studien oft methodische Mängel hätten: Das Fehlen von geeigneten Kontrollgruppen und dass die Patienten nur beschreiben würden, was sie erlebt hätten. Jedoch seien die Symptome nicht objektiviert und andere Risikofaktoren nicht berücksichtigt worden.
In einer neuen Studie aus dem Netzwerk der deutschen Universitätsmedizin wurde Fatigue bei Post-COVID untersucht, mit dem Ergebnis, das 19% der Patienten dieses Symptom nannten. Da es wegen der Corona-Pandemie keine Kontrollgruppen gab, hat man die Ergebnisse von Kontrollen aus der Zeit vor der Pandemie herangezogen. Auch da seien es bereits 8% Prozent gewesen. "Dieses Dilemma zieht sich durch alle Studien. Es passt hinten und vorne nicht zusammen", sagt Prüß enttäuscht. Zahlen zur Fatigue kursierten zwischen 0 und 90% und seien daher mit sehr großer Vorsicht zu genießen.
Die DGN widme sich aktiv der Erforschung von ME/CFS. Ein Problem sei allerdings auch, dass es zwei Gruppen von Patienten gebe: die bereits erkrankten und jene mit ähnlichen Symptomen nach einer COVID-19-Infektion. Viele davon würden auch von einer anderen Behandlung profitieren, aber nicht von der gängigen Versorgung von ME/CFS-Patienten. Mittlerweile gebe es aber erhebliche Zuwendungen für die klinische Forschung. Zwei Forschungsprojekte stächen hier besonders hervor:
In diesem Forschungsprojekt wird der Liquor von Post-COVID-Patienten mit Fatigue und Gedächtnisstörungen anhand eines etablierten Tests auf Antikörper untersucht, die sich an das Hirngewebe binden. Dazu wird der Hirnschnitt einer Maus zum Vergleich herangezogen. Die Patientengruppe mit Antikörpern schnitt in einem ebenfalls etablierten Gedächtnistests besonders schlecht ab. Die Studie hat zwar erst begonnen, aber beim Mäuse-Phänotyp hätten sich bereits Veränderungen gezeigt. Vielleicht könnte man bald mehr dazu beitragen, dieses komplexe und diffuse Krankheitsbild zu entschlüsseln.
Eine weitere mit 10 Millionen Euro geförderte Studie sei in ihrer Aufmachung bisher einzigartig. Zwei Drittel der Patienten erhalten dabei eine Immunabsorption, bei der die Antikörper aus dem Blut und aus dem Nervenwasser herausgewaschen werden. Der Rest bekommt eine chemische Apherese, bei der die Antikörper nicht herausgezogen werden. Dabei könnten auch die bei dieser Erkrankung wichtigen Placeboeffekte untersucht werden.
Prüß hofft, schon nach 12 Monaten klarere Antworten für ME/CFS-Patienten zu haben und zumindest einer Subgruppe eine neue Therapie anbieten zu können. Zusätzlich werde das Studienprogramm von einer sehr intensiven Biomarker-Forschung begleitet, mit der sich diese Krankheit besser einordnen lasse.
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