Familiärer Magenkrebs: Vorsorge dank verbesserter Endoskopie treffsicherer

Welche genetischen Marker und familiären Anamnesen sind entscheidend für die Früherkennung von familiären Magenkarzinomen? Dr. Severin Daum gibt Einblicke in präventive Maßnahmen und Risiken.

Interview mit Dr. Severin Daum

esanum: Dr. Daum, welche genetischen Marker oder familiären Anamnesen sollten Gastroenterologen und Viszeralmediziner besonders beachten, um ein familiäres Magenkarzinom frühzeitig zu erkennen? 

Dr. Daum: Es gibt zwei Gruppen von Betroffenen, die ein Magenkarzinom aufgrund eines familiären Hintergrundes entwickeln können. Eine Gruppe sind Betroffene mit sogenannten Polyposis-Syndromen, wie zum Beispiel die familiäre Adenomatöse Polyposis (FAP) oder das Lynch-Syndrom, die in der Regel mit Polypen im Dickdarm oder verschiedenen anderen Tumoren im Körper (Lynch-Syndrom) auffallen. Die andere Gruppe sind betroffene Familien, die zum Beispiel eine CDH1-Mutation aufweisen. Sie haben neben einem erhöhten Brustkrebsrisiko auch ein deutlich erhöhtes Risiko für das Siegelring-Karzinom des Magens. Daneben gibt es Familien ohne Nachweis einer genetischen Veränderung, die aber in ihrer Familie mehrere Betroffene aufweisen, häufig auch Verwandte jünger als 50 Jahre. Auch dort finden wir ein erhöhtes Risiko und den Familienmitgliedern sollte eine Vorsorge angeboten werden.

esanum: Welche genetischen Mutationen oder hereditären Tumorsyndrome sind am häufigsten mit einem familiären Magenkarzinom assoziiert? Wie bewerten Sie die Rolle von prädisponierenden Faktoren bei der Risikoabschätzung für betroffene Familien?

Dr. Daum: Auch hier haben wir wieder die zwei Gruppen. Das eine sind die Betroffenen mit dem Polyposis-Syndrom, wo das Magenkarzinom eines unter vielen ist - wobei das Lynch-Syndrom relativ häufig ist, das betrifft ebenso viele Menschen, wie beispielsweise in Bonn leben, nämlich ca. 300.000 in Deutschland. Jeder 300. ist Genträger für das Lynch-Syndrom. Unter anderem ist das durch die Fokussierung auf Vorsorgemaßnahmen wie z.B. die Darmkrebsvorsorge so deutlich geworden. Auch flache Polypen können bei der Darmkrebsvorsorge gefunden werden und so kann man da sehr gut vorsorgen. Die zweite „größere“ Gruppe sind die Betroffenen, die nicht zu diesen Polyposissyndromen gehören. Dazu gehört die Gruppe mit einer Mutation im CDH1-Gen, das für das Magenkarzinom und Brustkrebs verantwortlich ist. Bei den Lynch-Betroffenen sind prädisponierende Mutationen in den Genen MLH1 und MSH2. Hinzu kommen andere Faktoren wie Bewegung, Übergewicht, Rauchen und Alkohol. Aber dazu gibt es keine guten Daten. Das ist noch nicht ausreichend  prospektiv untersucht.

esanum: Welche präventiven Maßnahmen und Vorsorgeuntersuchungen empfehlen Sie für Patienten, die ein erhöhtes familiäres Risiko für Magenkarzinome aufweisen? Wann sollte eine genetische Beratung oder Testung erwogen werden?

Dr. Daum: Bei den Betroffenen mit einer CDH1-Mutation ist die entscheidende Vorsorgemaßnahme die Magenspiegelung. Und bei Entdeckung eines manifesten Tumors ist die präventive Maßnahme tatsächlich die Entfernung des Magens, die Gastrektomie. Wird die komplette Magenschleimhaut entfernt, verschwindet damit auch das Risiko. Mit dieser Entscheidung muss allerdings sehr achtsam verfahren werden, weil diese lebenslange Auswirkungen haben kann.

Wenn die Kriterien für ein familiäres Magenkarzinom erfüllt sind, wird eine humangenetische Beratung veranlasst. Ob sie das annehmen, entscheiden die Betroffenen selbst.  Einzelne Betroffene möchten diese Diagnosen aber nicht wissen und verzichten auch auf die Vorsorge. Ein wichtiger Vorteil der genetischen Beratung ist aber auch, dass die Diagnose relevant für die Nachkommen ist: Bei positivem Befund eines Elternteils besteht für die Nachkommen ein 50 prozentiges Risiko, selbst betroffen zu sein.

esanum: Welche Fortschritte oder Techniken in der Diagnostik von hereditären Tumorsyndromen haben sich zuletzt entwickelt, und wie können diese Erkenntnisse das Screening und Management von familiärem Magenkarzinom verbessern?

Dr. Daum: Vor allem hat sich die endoskopische Diagnostik weiterentwickelt. Sie ist deutlich besser geworden, wir sehen Dinge früher, die wir vor 10 oder 20 Jahren nicht gesehen hätten. Jetzt gibt es die Hoffnung auf Unterstützung durch die KI - sie kann vermutlich Dinge sehen, die wir mit bloßem Auge nicht erkennen würden. Und wir haben die Technik der besonderen Licht-Filterung, wir können bestimmte Farben herausfiltern, das ist nicht ganz neu, aber sehr hilfreich.

Wichtig ist die Zentrenbildung, wo wir Betroffene vorzugsweise zusammenführen, z.B. in den Zentren des Lynch Konsortiums. Die Zentren müssen Erfahrung haben und an Studien teilnehmen, etwa Beobachtungsstudien. Eine große Frage ist: Können wir in bestimmten Fällen weiter beobachten oder muss man tatsächlich operieren? Könnte man also mit “Wait and See” vorgehen, ehe man eine große Operation vornimmt, die ja deutliche Nebenwirkungen mit sich bringt? Studien aus den USA, Verlaufsbeobachtungen, legen das nahe. Aber das macht man erst wenige Jahre. Davor haben wir allen CDH1-Betroffenen ab einem gewissen Alter eine vorsorgliche Gastrektomie empfohlen. Davon sind wir inzwischen weg. Jetzt sagen wir sogar: Da ist ein Krebszell-Fokus, eine kleine Ansammlung, die wir zufällig entdeckt haben, da warten wir jetzt ab. Das können wir wegen der verbesserten Endoskopie und dank der Verlaufsbeobachtungen, die zeigen, dass bestimmte Krebszellen erst einmal so bleiben und sich nicht entwickeln. Leider wissen wir noch nicht, welche molekularen Veränderungen es in diesen schlummernden Krebszellen gibt, die sie davon abhalten zu wachsen und welche dazu führen, dass sie sich ausbreiten. 

esanum: Das Management von Patienten mit familiärem Magenkarzinom erfordert oft ein interdisziplinäres Team. Wie sollten Gastroenterologen, Onkologen, Chirurgen und Genetiker zusammenarbeiten, um eine optimale Vorsorge, Überwachung und Therapieplanung zu gewährleisten?

Dr. Daum: Das Management läuft optimal in einem Zentrum mit viel Erfahrung. Doch der Hausarzt ist ebenso wichtig, weil er die Betroffenen mit Beschwerden und einer familiären Belastung herausfischen kann. Genauso entscheidend sind die niedergelassenen Gastroenterologen, die bei Symptomen die Diagnose stellen. Hier kommt es darauf an, dass man sich für die gründliche Untersuchung genug Zeit nimmt. Mindestens eine halbe Stunde sollte die Untersuchung dauern, solange wie eine Darmspiegelung, um auf Veränderungen einzugehen, die man sonst übersehen würde. 

Im Team benötigt man Humangenetiker, die spezielle Beratungen durchführen, und mit den molekulargenetischen Techniken und Interpretationen bestens vertraut sein müssen. Das ist inzwischen weitgehend Standard, sodass diese nicht vor Ort sein müssen. Wesentlich im Team ist ein versierter Viszeralchirurg, der eine adäquate Magenchirurgie machen kann - wenn man denn operieren muss. Die Expertise der Onkologie benötigen wir zumeist erst dann, wenn es z.B. zu einer Metastasierung gekommen ist, was wir ja verhindern wollen. Jeder in der Kette ist wichtig und muss selbstverständlich von seinem Fach etwas verstehen.

Wer ist Dr. Severin Daum?

Dr. Severin Daum arbeitet seit mehr als 20 Jahren am Campus Benjamin Franklin der Charité in Berlin und ist auf dem Gebiet der gastrointestinalen Onkologie tätig. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf Tumoren des Verdauungstrakts, insbesondere auf Ösophagus- und Magenkarzinomen. Er untersucht das Ansprechen von Patienten auf unterschiedliche Therapien und erforscht, welche Bildgebungsverfahren oder molekularen Marker zur Vorhersage des Therapieansprechens genutzt werden können. Von 2016 bis 2018 war er im Rahmen des BIH Clinical Fellows Förderprogramms aktiv und befasste sich mit der Evaluation neuer molekularer Marker bei Adenokarzinomen des gastro-ösophagealen Übergangs oder Magens.