Wie ungerecht ist die Diabetestherapie?
Die Behandlung einer chronischen Erkrankung ist für Betroffene und Versorger mit viel Aufwand verbunden. Wenn dann noch soziale Faktoren den Zugang zur Diabetestherapie erschweren, kann dies weitreichende Folgen haben.
Diabetestherapie in Deutschland – gleiche Chancen für alle?
Von der Annahme ausgehend, Deutschland als moderner Sozialstaat habe eine relativ wohlhabende und homogene Gesellschaft, könnte man schlussfolgern, es gäbe keinerlei Unterschiede im Zugang zur Diabetestherapie. Allerdings ist dem in der Realität nicht so. Denn: Armut tritt nicht nur am Rand der Gesellschaft auf. Über 20% der Kinder in Deutschland (2,8 - 4,4 Mio) sind armutsgefährdet, das heißt, sie leben in Haushalten, die weniger als 60% des medianen Einkommens aller Haushalte zur Verfügung haben. Für zwei Drittel dieser Kinder ist das der Dauerzustand, eine Verbesserung der Situation hat sich seit Jahren nicht eingestellt. Außerdem sind 0,1% der deutschen Bevölkerung nicht krankenversichert, die Dunkelziffer erhöht diese Rate vermutlich noch um ein Vielfaches. Darunter fallen nicht nur Menschen ohne Papiere, sondern auch zunehmend EU-Bürger ohne Krankenversicherungsnachweis und Nicht-Versicherte ohne Migrationshintergrund.1 Daraus ergibt sich die Frage, ob es im Zugang zur Diabetestherapie wirklich keine sozialen Unterschiede gibt, oder ob lediglich keine Daten zu diesen sozialen Unterschieden vorliegen. Mit dieser Frage beschäftigten sich Expertinnen und Experten der Diabetologie und gaben auf der DDG Herbsttagung nähere Einblicke zu erhobenen Daten.
Soziale Ungleichheiten in der Versorgungsforschung lassen sich anhand dreier Kriterien abbilden: Sozioökonomischer Status, Ethnizität bzw. Migrationshintergrund und Stadt-Land-Unterschiede.
Der sozioökonomische Status ist ein individueller Parameter, der sich aus den Faktoren Einkommen, Bildung und Beschäftigung zusammensetzt und einen ausschlaggebenden Einfluss auf den Zugang zur Diabetestherapie hat. Des Weiteren hat rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung eine Migrationsgeschichte, wobei diese Subgruppe sehr heterogen ist. Individueller Migrationshintergrund kann beispielsweise dazu führen, dass die Sprachkenntnisse ein Hindernis in der optimalen Behandlung der Diabeteserkrankung darstellen, sei es beim Stellen von Anträgen oder Schulungen für digitale Management-Tools.2 Außerdem können Stadt-Land-Unterschiede Auswirkungen auf die Zugänglichkeit zur Therapie chronischer Erkrankungen haben, da eine regionale Deprivation vorherrschen kann. Diese äußert sich im Mangel an Ressourcen, der relativ, regional und multipel auftritt. In Deutschland befindet sich das privilegierteste Quintil der Bevölkerung beispielsweise im Süden, während im Osten des Landes die wenigsten Privilegien vorherrschen, gemessen an den den Faktoren der Stadt-Land-Unterschiede.1
Insgesamt lässt sich also sagen, dass es in Deutschland signifikante Disparitäten nach sozioökonomischer Situation und Migrationshintergrund gibt. Ein niedriger sozioökonomischer Status geht mit diversen Kosten einher, wie beispielsweise einer niedrigeren Selbstwirksamkeitserwartung und niedrigeren Gesundheitskompetenzen.
Versorgungsunterschiede können demnach also in der Person (durch Alter, Handicaps, den sozioökonomischen Status, Migrationshintergrund, Begleiterkrankungen, Versicherungsstatus, etc.) oder in der Struktur des Versorgungssystems (Wohnort, Region, Schwerpunktpraxisverträge, Verkehrsanbindung) begründet sein.2 Der German Index of Multiple Deprivation (GIMD) ermöglicht es, regionale soziale Unterschiede abzubilden und kleinräumige Disparitäten bei gesundheitlichen Risiken zu erfassen.3 Hinsichtlich der Diabetesprävalenz bedeutet dies:
"Regionale Deprivation spielt eine signifikante Rolle für die Diabetesprävalenz in Deutschland, unabhängig vom individuellen sozioökonomischen Status."4
Versorgungsunterschiede in der diabetologischen Praxis
In internationalen Studien konnten soziale Ungleichheiten und deren Auswirkungen auf den Zugang zu Versorgungsunterschieden von Diabeteserkrankungen bereits nachgewiesen werden. Sozial benachteiligte Personen haben einen schlechteren Zugang, weniger Inanspruchnahme und geringere Qualität der Versorgung aufzuweisen. Außerdem finden bei Diabetikern mit niedrigem sozialen Status seltener Diabetesschulungen statt, und die Facharztbetreuung erfolgt nicht in dem Ausmaß, wie bei Menschen mit hohem sozialen Status. Soziale Ungleichheit zeigt sich ebenso in der Prävalenz des Diabetes sowie im Diabetesrisiko. In Zusammenhang mit regionaler Deprivation ist festzuhalten, dass sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern mit Typ-1-Diabetes der HbA1c-Wert fast linear mit dem Grad der Benachteiligung ansteigt. Technologien, die beim Diabetes-Management helfen, werden häufiger von Menschen ohne Migrationshintergrund verwendet.1 Auch wirtschaftliche Faktoren spielen eine Rolle im Praxisalltag: Ein geringes Einkommen führt häufig zu Verzicht auf medizinische Versorgung. Fast 9% der unteren Einkommensgruppe in Deutschland können sich Zuzahlung zu weiterführender medizinischer Versorgung nicht leisten.2 Menschen mit niedrigerem sozioökonomischen Status, Migranten und Frauen sind stärker von gesundheitlichen Risiken und Problemlagen betroffen und haben einen schlechteren Zugang zu präventiven Maßnahmen sowie fachärztlicher Versorgung.5 Zudem nehmen höhere Statusgruppen und privat Versicherte vermehrt Fachärzte und präventive Maßnahmen in Anspruch.6
Zusätzlich zu Faktoren, die in den betroffenen Patientinnen und Patienten begründet liegen, fällt auch die Dichte der Schwerpunktpraxen im jeweiligen Gebiet ins Gewicht. Da die Schwerpunktpraxisverträge in jedem Bundesland anderen Konditionen unterliegen, lohnt es sich in manchen Teilen Deutschlands für Ärzte nicht, eine Schwerpunktpraxis aufzumachen. Diese sind allerdings wichtig für Patienten mit eingeschränkter Mobilität, da hier mehrere Fachbereiche, die für das Krankheitsmanagement vonnöten sind, auf einer Fläche vereint werden.2
Lösungswege zur Minimierung der Ungleichheit in der Diabetestherapie
Um die Ungleichheit in der Diabetestherapie und den Zugang zu dieser zu minimieren, sind individuelle sowie flexible Ansätze vonnöten, wie beispielsweise mit Hilfe von Gebärdensprachdolmetschern. Außerdem ist eine gute Einbindung in ein Diabetesteam mit Personal aus unterschiedlichen relevanten Fachrichtungen essentiell, ggf. mit speziellen Sprechstunden für betroffene Patienten, die besonderen Unterstützungsbedarf haben.
Insgesamt ist es enorm wichtig, die Gründe für diese Unterschiede zu untersuchen. Denn die Disparitäten beim Zugang zu moderner Diabetestherapie könnten Ungleichheiten in Therapieergebnissen verschärfen, wie in den beiden Sessions ersichtlich wurde.
Weitere Highlights und Hot Topics der DDG Herbsttagung 2022 finden Sie in unserer Kongressberichterstattung.
- Auzanneau, M.: "Soziale Ungleichheit in der Diabetestherapie"; Symposium: Diabetes und soziale Ungleichheit - Soziale Ungleichheiten durch Diabetes - Auswege?!, DDG Herbsttagung 2022, 26.11.2022.
- Maxeiner, S. & Petry, F.: "Versorgungsunterschiede in der Praxis"; Symposium: Diabetes und soziale Ungleichheit - Soziale Ungleichheiten durch Diabetes - Auswege?!, DDG Herbsttagung 2022, 26.11.2022.
- Maier, W. & Bauer, H.: "GIMD 2010 - Ein Uptade des German Index of Multiple Deprivation. DOI: 10.15134/2018M0001"
- The impact of regional deprivation and ivdividual socio-economic status on the prevalence of Type 2 diabetes in Germany. A pooled analysis of five population-based studies - PubMed. Online verfügbar unter https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23127142/
- Kruse, A. & Schmitt, E. (2016): Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Pflege im höheren Lebensalter. In: Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz 59 (2), S. 252 - 258. DOI: 10.1007/s00103-015-2285-4.