Diagnostik vererbter Anämien: Leitlinie zur NGS
Wann wird die Gensequenzierung mittels Next Generation Sequencing (NGS) zur Erfassung seltener, genetisch bedingter Anämie angewandt und was ist hierbei zu berücksichtigen?
NGS in Kürze
- Unter NGS werden innovative Untersuchungsverfahren der Gensequenzierung zusammengefasst, die heutzutage oft zur Abklärung von Erbkrankheiten angewandt werden.
- Die neue Good-Practice-Leitlinie zur NGS-Diagnostik vererbter Anämien beantwortet Fragen zu Indikation, Zeitpunkt der Untersuchung, geeigneter Sequenzierungsmethode, Erstellung des Befundreports, Speicherung und Austausch erfasster Genvarianten und Qualitätsanforderungen.
Gensequenzierung bei hereditären Anämien
Das NGS wird immer häufiger zur Diagnose der seltenen Anämien genutzt. Zu diesen raren Formen der Blutarmut zählen:
- Diamond-Blackfan-Anämie (DBA)
- kongenitale dyserythropoetische Anämie (CDA)
- kongenitale sideroblastische Anämie (CSA)
- Dysfunktion der erythrozytären Membran und Enzyme
Wie ein standardisiertes Vorgehen bei der Genanalyse aussehen sollte, wurde nun in einem Konsensusreport der BSH/EHA zusammengefasst. Die Forschungsarbeit, die als Orientierungshilfe bei der Diagnostik der hämatologischen Erbkrankheiten dienen kann, wurde jetzt von der Hauptautorin Dr. med. Noémi Roy (Oxford University) auf dem EHA-Kongress präsentiert.
Leitlinienempfehlung zum NGS: Durchführung, Befundreport und Co.
Die Empfehlungen rund um das NGS bei vererbter Anämie richten sich nach den wichtigsten Fragen zu diesem Thema und geben kurz und prägnant die beste Vorgehensweise wieder:
Wann und wie sollte das NGS in der Diagnostik seltener Anämien angewandt werden?
- Allgemein gilt, dass im analysierten Gen-Panel die Erbinformationen, die mit DBA, CDA, CSA und erythrozytären Defekten assoziiert werden, zu sequenzieren sind.
- Die NGS kommt zum Einsatz, wenn als Ursache der Erkrankung eine erworbene Anämie äußerst unwahrscheinlich ist. Vor der Genanalyse muss aber ausgeschlossen werden, dass eine Globin-Gen-Anomalie vorliegt. Außerdem muss natürlich die Einwilligung der Testperson vorliegen.
- Auch eignet sich die Sequenzierung als Bestätigungstest, falls diagnostische Unsicherheit besteht. Des Weiteren wird die Erbgutuntersuchung vor invasiven Eingriffen wie einer Splenektomie oder Knochenmarktransplantation empfohlen, um unnötige Prozeduren zu vermeiden bzw. um keine genetische Variante an den Stammzellempfänger weiterzugeben.
Wann im Diagnosepfad kommt das NGS zum Einsatz?
- Die Frage nach dem besten Zeitpunkt zur genetischen Untersuchung ist schwierig zu beantworten, wie Dr. Roy betonte: Unter anderem liegt es an den international unterschiedlichen Gesundheitssystemen, Regelungen zur Kostenübernahme sowie der Verfügbarkeit von qualifizierten Laboren, ob die Gensequenzierung zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt erfolgen könne. Als allgemeine Empfehlung gilt aber, dass nach der Basisabklärung (Anamnese, körperliche Untersuchung und Blutanalyse) speziellere Verfahren wie spezifische Bluttests (z. B. Enzym-Level), die Knochenmarkuntersuchung und schließlich die Erbgutanalyse folgen. Welche der Letzteren notwendig sind, hängt von der individuellen Befundkonstellation ab.
- Generell sollte das NGS erst erfolgen, wenn der Phänotyp charakterisiert wurde (z. B. Anämie aufgrund von Hämolyse, Störung der Erythropoese oder Knochenmarkinsuffizienz), da dies eine Auswirkung auf das verwendete Gen-Panel und die Analysemethode hat.
Wie wird die geeignetste NGS-Methode ausgewählt und welche Qualitätskriterien sind zu erfüllen?
- Die Genanalyse ist basierend auf den vorhandenen lokalen Ressourcen und der erforderlichen Durchlaufzeit zu wählen. Je nach angewandter Sequenzierung sollte sich das Labor der Grenzen der jeweiligen Technik bewusst sein und diese, falls möglich, optimieren oder im Befundbericht darauf verweisen; ebenso ist es wichtig, alternative Methoden zur Detektion der evtl. nicht-identifizierten Genvarianten zu empfehlen.
- Falls darüber hinaus weitere Tests zur Bestätigung der Diagnose notwendig sind (z. B. RNA-Studien), sollten diese auf dem Abschlussreport genannt werden.
Welche genetischen Auffälligkeiten gehören in den Befundbericht?
- Erbgutvarianten, die sicher (oder wahrscheinlich) im Zusammenhang mit der Anämie stehen, müssen dokumentiert werden. Aber auch pathogene Genveränderungen, die nicht für die Erkrankung ursächlich sind, sollten erwähnt sein.
- Für den Fall, dass Varianten mit unbekannter klinischer bzw. funktioneller Auswirkung identifiziert worden sind, sind diese als VUS (Variante of unknown/uncertain significance) zu kennzeichnen; zudem ist darauf hinzuweisen, dass ohne weitere Untersuchungen nicht festgestellt werden kann, ob die VUS für die hereditäre Erkrankung verantwortlich ist.
- Allerdings gibt es auch Befunde, die aufgrund des unbekannten Effektes auf die Proteinsynthese nicht im Untersuchungsbericht vorgebracht werden sollten. Hierzu zählen Intronic/Splice-Varianten und 5′- bzw. 3′-Genveränderungen.
Wie können Genvarianten gespeichert und zwischen Laboren ausgetauscht werden?
- Generell gilt die Empfehlung, gefundene Varianten mit anderen Laboreinrichtungen, welche sich mit der Analyse derselben DNA-Abschnitte befassen, zu teilen. Zu beachten ist, dass ethische und rechtliche Fragen bei der gemeinsamen Nutzung der Daten im Vorfeld geklärt werden müssen.
Fazit für die Praxis
Das NGS ist eine große Bereicherung zur Gendiagnostik seltener, hereditärer Anämien. Wird sie gemäß der Konsensusarbeit der EHA und BSH eingesetzt, kann das standardisierte Vorgehen nicht nur bei der Erstellung aussagekräftiger und vergleichbarer Befunde helfen, sondern auch die Qualität sichern und auch die Kollaboration zwischen den Laboratorien erleichtern.
Referenzen:
1. Roy, Noémi, Dr. med., Oxford University, Vortrag: Overview of Guidelines. Sitzung: BSH-EHA Guidelines on Use of next-generation sequencing in the diagnosis of congenital anemias, EHA Kongress 2022, Wien, 15.06.2022.
2. Roy, Noémi B. A. et al; on behalf of the British Society for Haematology and the European Hematology Association. The Use of Next-generation Sequencing in the Diagnosis of Rare Inherited Anaemias: A Joint BSH/EHA Good Practice Paper, HemaSphere: June 2022 - Volume 6 - Issue 6 - p e739 doi: 10.1097/HS9.0000000000000739.
3. Behjati S, Tarpey PS. What is next generation sequencing? Arch Dis Child Educ Pract Ed. 2013;98(6):236-238. doi:10.1136/archdischild-2013-304340.