Die Transparenten Sinne und ihre Implikationen für Depersonalisation

Dr. Anna Ciaunica gibt Einblicke in ihre Arbeit mit dem anthropologischen Konzept der "Transparenten Sinne" und erklärte, wie der COVID-19-bedingte Mangel an taktilem Erleben die Selbstentfremdung begünstigt.

Warum die COVID-19-Pandemie die Selbstentfremdung begünstigt

Die fundamentalsten Dinge des Lebens sind die, die wir nicht sehen können und längst als selbstverständlich betrachtet haben - wie die Scheiben eines Fenster sind sie “transparent”. Das Fenster vermittelt uns den Eindruck, Teil der Welt zu sein. Erst wenn ein Riss im Glas entsteht, wird das Fenster als solches wahrgenommen. Es entsteht eine erlebte Distanz zwischen dem “hier” und dem “da draußen”.

Taktile Erfahrungen sind existenziell für das Ich-Gefühl

In der Psychoanalyse spricht man in dem Fall von einer Depersonalisationsstörung (Depersonalisation Disorder) oder der Entfremdung des “Ichs”. Die Depersonalisation oder Derealisation bezeichnet ein Gefühl der Fremdheit des eigenen “Ichs” oder der Distanziertheit zur Umgebung. Diese erlebte Barriere wird von vielen Betroffenen als eine “Glasscheibe” bezeichnet, die das “Ich” vom eigenen “Selbst” oder den eigenen Körper von der realen Welt trennt. 

In ihrer Vorlesung “Whatever Next and Close to my Self – The Transparent Senses and the 'Second Skin': Implications for the Case of Depersonalisation”1 präsentierte Dr. Anna Ciaunica ihre gleichnamige Arbeit2 und erklärt, warum die taktilen Erfahrungen existenziell für das Lebensgefühl sind und warum die COVID-19-bedingte Isolation den Entfremdungsprozess beschleunigt.

Proximale Wahrnehmung dient der Orientierung

In seiner Arbeit “Whatever next? Predictive brains, situated agents, and the future of cognitive science”3 argumentiert Andy Clark, dass das Gehirn - basierend auf vergangenen Erlebnissen - vorhersagen kann, welche Informationen als nächstes kommen. Das Gehirn antizipiert zuvor wahrgenommene Erfahrungen, um potenzielle Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Eine präzise Informationsverarbeitung von Geschehnissen im Hier und Jetzt ist ausschlaggebend für den Überlebenssinn.

Dr. Anna Ciaunica nimmt dieses Rahmenkonzept der Verarbeitung und Voraussage als Basis ihrer eigenen Arbeit und stellt das “next” in der Formulierung von Andy Clark nicht nur in einen zeitlichen, sondern auch in einen räumlichen Bezug. Die Wahrnehmung darf sich nicht nur auf das “jetzt, in diesem Moment” beschränken, sondern muss auch das “hier, neben mir” in den Fokus rücken. Was ich in unmittelbarer Nähe mit meinen Sinnen wahrnehmen kann oder was in kurzer Distanz zu meinem eigenen Körper passiert, hat höchste Priorität. Die Basis der existenziellen Orientierung besteht demnach aus der proximal-multisensorischen Informationsverarbeitung (z.B. olfaktorisch oder taktil). Durch sie verschmelzen die proximalen Sinne zu einem “transparenten” Erfahrungshintergrund. Sie sind in ihrer Übermittlung der wesentlichen Informationen zum Überleben so allgegenwärtig, dass wir sie nur im Hintergrund wahrnehmen und als selbstverständlich ansehen.

Die Haut als Brücke zwischen Selbst und Umwelt

Der Tastsinn hat dabei eine Schlüsselrolle in der proximalen Wahrnehmung. Durch die Haut - das älteste und in Bezug auf Ausdehnung und Funktion größte Sinnesorgan - nehmen wir die Grenzen zwischen dem Selbst und der realen Welt wahr. Das Berühren spielt eine entscheidende Rolle für das Eingehen von sozialen Bindungen und vermittelt ein Gefühl der körperlichen Nähe und Verbundenheit mit der Umgebung. “Wir können nicht berühren, ohne dabei selbst berührt zu werden”, sagt Dr. Cianuica und schlägt vor, die Haut als eine “transparente Brücke” zu betrachten, die einen wesentlichen Bezug zwischen dem Selbst und der physischen sowie sozialen Welt ermöglicht und den Austausch erleichtert.

COVID-19-bedingte Isolation und die mediale Überstimulierung

Wie wichtig diese proximalen Sinne für die Wahrnehmung wirklich sind, wurde den meisten Menschen erst im Zuge der COVID-19-bedingten sozialen Isolation bewusst. Durch die unausweichliche Distanz zur physischen und sozialen Welt, erfolgte bei vielen Menschen auch eine Entfremdung des “Ichs”. 

In einer noch nicht veröffentlichten Studie untersuchte Dr. Ciaunica gemeinsam mit Kolleg:innen, wie die COVID-19-bedingte audiovisuelle Überstimulation mit digitalen Medien die Selbstentfremdung beschleunigt. Die vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass die physische und soziale Distanz sowie der wesentliche Mangel an taktilen Erlebnissen eine Diskrepanz zwischen dem “Ich, hier drinnen” und der “Welt da draußen” geschaffen haben. Dadurch werden psychische Störungen, wie zum Beispiel eine Depersonalisation, stark begünstigt.

 

Referenzen:
1. Anna Ciaunica: Whatever Next and Close to my Self – The Transparent Senses and the ‘Second Skin’: Implications for the Case of Depersonalisation. INSIGHT 2021 Conference, 11 September 2021.
2. Anna Ciaunica, Bruna Petreca, Aikaterini Fotopoulou and Andreas Roepstorff: Whatever Next and Close to my Self – The Transparent Senses and the ‘Second Skin’: Implications for the Case of Depersonalisation. PsyArXiv Preprints, 05 January 2021.
3. Andy Clark: Whatever next? Predictive brains, situated agents, and the future of cognitive science. Cambridge University Press, 10 May 2013.
4. Anna Ciaunica: Die Körperlichen Wurzeln des Bewussten Erlebens Verstehen. MIND Foundation, 12 February 2021.
 

English Version: The Transparent Senses and their implications for depersonalisation (esanum.com)