Kann ein gemeinsamer Datenraum den Umgang mit Gesundheitsdaten EU-weit harmonisieren? Welche Daten brauchen verschiedene Akteure in der medizinischen Versorgung von Patienten mit Orphan Diseases? Und wie lässt sich eine länderübergreifende, datenschutzkonforme Verknüpfung verschiedener Datenbestände im Bereich Seltene Erkrankungen konkret umsetzen, von der Betroffene maximal profitieren können? Komplexe Fragestellungen, denen beim Tagesspiegel Fachforum Gesundheit unter dem Titel "Seltene Erkrankungen: Nationale Weichenstellungen für einen europäischen Gesundheitsdatenraum" nachgegangen wurde. Referierende aus Medizin, Politik, Wissenschaft, Industrie und Patientenvertretung kamen unter der Moderation von Gunnar Göpel, Tagesspiegel Background Gesundheit & E-Health, auf der Suche nach Antworten zusammen.
Einführend in die Veranstaltung gibt Thomas Renner, Leiter der Unterabteilung Digitalisierung und Innovation beim Bundesministerium für Gesundheit, zu verstehen: "Ein lernendes Gesundheitssystem braucht qualitativ hochwertige Daten." Gerade Patienten mit seltenen Erkrankungen profitierten von Real World Evidence Data massiv – doch an der Verfügbarkeit hochwertiger Daten scheitere es immer wieder. Als größte Barrieren der Datenverfügbarkeit nennt Renner:
Nun komme der European Health Data Space ins Spiel: Der gemeinsame Datenraum, zitiert Renner die politisch definierten Ziele des EHDA, werde den Austausch elektronischer Gesundheitsdaten verbessern, wodurch nicht nur die Gesundheitsversorgung unterstützt werde, sondern auch die gesundheitsbezogene Forschung, Innovation und personalisierte Medizin. Ein perfekt durchdachtes Konzept also? Weitgehend habe man sich sehr gute Gedanken gemacht. Auf der Habenseite hinsichtlich Primärdaten und "Aktensystemen" seien die Ansätze des EHDS geeignet, um den Datenaustausch in Europa, z. B. hinsichtlich Datenkategorien, Austauschformaten oder -plattformen, zu stärken. Allerdings sei der Datenzugriff auf alle Primärsysteme zu weitgehend – Fragen der technischen Umsetzung müssten in der Verantwortung einzelner Mitgliedstaaten liegen. Hinsichtlich Sekundärdaten liefere der EHDS geeignete Ansätze, die Datenverfügbarkeit zu verbessern, außerdem könnten nationale Zugangsstellen das Auffinden und den Zugang zu Daten erleichtern. Demgegenüber stehe, dass bereitzustellende Datenkategorien noch konkretisiert werden müssten. Darüber hinaus müsse sich die Europäische Kommission laut Renner am Aufbau von Infrastrukturen beteiligen.
Insgesamt zeigt sich Renner vom Konzept des EDHS überzeugt: Hierdurch werden nicht nur die Rechte von Patienten im Umgang mit ihren Daten gestärkt, außerdem könnten bestehende Unsicherheiten und unterschiedliche Interpretationen der DSGVO im Umgang mit Gesundheitsdaten reduziert werden. Das Ziel, einen Europäischen Datenraum bis 2025 zu etablieren, hält Renner allerdings für sehr ambitioniert. Seiner Ansicht nach sollte hier zunächst schrittweise vorgegangen werden und relevante Gesundheitsdaten nach und nach zugänglich gemacht werden.
Unter der Fragestellung "Welche Daten brauchen wir künftig, damit Patienten profitieren?" tauschten sich Prof. Stefan Mundlos (Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik, Charité Berlin & Stellv. Leiter, Berliner Centrum für Seltene Erkrankungen), Ursula Gaedigk (Patientenbeauftragte des Landes Berlin, Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung und Jean-Luc Delay (Geschäftsführer, Takeda Pharma Vertrieb GmbH & Co. KG) aus. Einige Kernaussagen im Überblick:
Spannende Einsichten zum Thema Daten und Gesundheit liefert Judith Klose, Vice President Media & Marketing bei CIVEY, die in ihrem Vortrag Umfrageergebnissen zum Themenbereich Digitalisierung/Gesundheitsforschung/Datenschutz präsentiert. Hierbei zeigt sich, dass das Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen aktuell nur für wenige Menschen eine Rolle spielt. Am stärksten nahmen die Befragten das Thema Digitalisierung im Alltag in den Bereichen Freizeit (25,9 %) und Arbeit (19,6 %) wahr – im Bereich Gesundheitswesen waren es nur 3,1 %. Doch den Umfrageergebnissen zufolge bestehen große Hoffnungen für das Thema Gesundheitsdaten: Die Frage "Wären Sie bereit, Ihre Gesundheitsdaten anonymisiert und unter Wahrung datenschutzrechtlicher Vorgaben der Gesundheitsforschung zur Verfügung zu stellen?" beantworteten 64 % der Befragten mit "Ja" – ein breiter Konsens aller Altersgruppen, von 16 bis 65+.
Woran hapert es noch bei der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens? Erwerbstätige aus der Branche sehen die größten Probleme beim Thema Datenschutz (48 %), in einer fehlenden Infrastruktur (41 %) und einem Fachkräftemangel (34 %). Fehlende Ressourcen hingegen stellen nur für etwa ein Fünftel der Befragten ein Problem dar. Konkret im Hinblick auf seltene Erkrankungen und die Frage, was nötig sei, um die Datenlage zur Erforschung weiterzuentwickeln, sind sich Ärzte, Erwerbstätige im Gesundheitswesen und Erwerbstätige in der Industrie einig: Absolute Priorität stellt die Schaffung eines digitalen Netzwerks / einer Datenbank dar (48 %, 45,7 & und 41,8 %). Nur wenige der Befragten können hingegen mit dem European Health Data Space etwas anfangen: Über 45 Prozent der Erwerbstätigen im Gesundheitswesen kennen den EHDS nicht, in der pharmazeutischen Industrie sind es sogar 66,8 %. Ärzte hingegen sind hier besser aufgestellt: Nur 29 % der Befragten ist der European Health Data Space kein Begriff.
Judith Klose fasst zusammen:
Abschließend resümiert Gunnar Göpel einige der wichtigsten Erkenntnisse der Veranstaltung:
Seit 2008 findet jedes Jahr Ende Februar der weltweite Tag der seltenen Erkrankungen statt. esanum begleitet den Tag und berichtet nicht nur über aktuelle Themen, sondern auch über mögliche Symptomkomplexe, Diagnostik, Therapieansätze und Orphan Drugs zur Behandlung von seltenen Krankheiten. Weitere Beiträge finden Sie im Themenspecial zum Rare Disease Day.