Die Bilanz sieht auf den ersten Blick erfreulich aus: Seit Inkrafttreten der europäischen Orphan Drug Legislation im Jahr 2000 sind in der EU mehr als 200 neue Wirkstoffe gegen seltene Krankheiten zugelassen worden. Die mit dem Gesetz verbundene Incentivierung für die Entwicklung dieser Arzneimittel, insbesondere erweiterte Exklusivitäts- und Patentrechte, hat also gewirkt. Vor dem Hintergrund der bislang identifizierten rund 8000 seltenen Krankheiten bleibt allerdings noch eine gewaltige Herausforderung für die Forschung. Gleichwohl besteht Hoffnung: Weltweit haben rund 2400 Wirkstoff-Kandidaten einen Orphan-Drug-Status. Es existiert also ein großes Potential für Innovationen.
Betrachtet man allerdings die reale Versorgung der betroffenen Menschen über die engen nationalen Grenzen hinaus, dann sieht die Lage weit weniger rosig aus. Eine wesentliche Ursache dafür sind die hohen und fulminant steigenden Jahrestherapiekosten für Orphan Drugs.
Analysiert haben dies Gesundheitsökonomen unter Leitung von Professor Wolfgang Greiner von der Uni Bielefeld im DAK-AMNOG-Report 2022 für Deutschland. Danach liegen die Jahrestherapiekosten für Orphan Drugs generell doppelt so hoch wie die der übrigen neu zugelassenen Arzneimittel, die den AMNOG-Prozess durchlaufen haben: in der Periode von 2011 bis 2016 im Durchschnitt bei 243.000 Euro gegenüber 104.000 Euro im Non-Orphan-Segment. Zugleich steigen die Jahrestherapiekosten für neue Wirkstoffe geradezu sprunghaft und erreichen im Jahr 2020 rund 241.000 Euro für Non-Orphans und fast 540.000 Euro für Arzneimittel gegen seltene Krankheiten.
Trotz des hohen Preisniveaus ist die Versorgung der von seltenen Krankheiten betroffenen Patienten in Deutschland gesichert. Es gilt das Paradigma, dass jedes neu zugelassene Arzneimittel sofort für die Versorgung verfügbar ist und von den Krankenkassen erstattet wird – die Nutzenbewertung und eine Preisvereinbarung zwischen Hersteller und Kassen finden erst nachgelagert statt. Das scheint zumindest auf Sicht noch finanzierbar: Nur etwa fünf Prozent der gesamten Arzneimittelausgaben fallen für Orphan Drugs an, die diesen Status aktuell noch haben.
Das sieht in anderen Ländern völlig anders aus. Bevor ein neues Arzneimittel in die Versorgung kommt, muss eine vierte Hürde überwunden werden: ein HTA-Verfahren und eine Preisvereinbarung zwischen Hersteller, Sozialversicherung oder dem staatlichen Gesundheitsdienst. Das kann Jahre dauern oder auch dazu führen, dass Orphan Drugs aufgrund ihrer Hochpreisigkeit überhaupt nicht für Patienten zugänglich werden. Das ist vor allem in den deutlich ärmeren Ländern Osteuropas durchweg der Fall. Im Durchschnitt der EU sind folglich nur 40 Prozent der zugelassenen Orphans für die Versorgung verfügbar.
Diesem Umstand versucht die EU-Kommission mit einer Neudefinition von Orphan Drugs und insbesondere des Unmet Medical Needs zu begegnen. So sollen künftig auf zwei Ebenen schärfere Kriterien festgelegt werden, die ausschlaggebend dafür sind, ob ein Wirkstoff einen Orphan-Status bekommt:
Anhand dieser Kriterien sollen verschiedene Stufen für das Ausmaß der Marktexklusivität – zwischen fünf und zehn Jahren gegenüber generell zehn Jahren nach der geltenden Rechtslage – geschaffen werden. Das würde zwar den Druck auf die Gesundheitsbudgets der
Länder mindern, langfristig aber negative Auswirkungen für die Versorgung der Patienten, für Innovationen und für die Wettbewerbsfähigkeit Europas, argumentiert der Dachverband der europäischen Arzneimittelindustrie (EFPIA). Außerdem gehe die EU-Kommission bei ihren Plänen von der völlig unrealistischen Annahme aus, dass künftig alle zugelassenen Orphan Drugs binnen zwei Jahren in sämtlichen 27 EU-Mitgliedsstaaten in der Versorgung zur Verfügung stehen. In der praktischen Konsequenz würden bestehende Rechte und Anreize "signifikant erodieren". Insbesondere das Kriterium der Heilung würde aus Industriesicht eine "hohe Hürde" für Neuentwicklungen schaffen.
Um die Verfügbarkeit von Orphan Drugs für möglichst viele betroffene Patienten in Europa zu verbessern, wird auch eine andere, vom tschechischen Gesundheitsminister Vlastimil Válek im April vergangenen Jahres ins Spiel gebrachte Idee ventiliert: eine gemeinsame Beschaffung von Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten. Das wäre in mehrerlei Hinsicht eine neue Dimension: die Hersteller sähen sich dem Nachfragemonopol einer europäischen Institution gegenüber und verlören die Möglichkeit, differenzierte Preise je nach nationaler Zahlungsfähigkeit zu setzen. Und es wäre ein Eingriff in die Souveränität der EU-Mitgliedsländer in die Ausgestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme, zu denen die Krankenversicherungen zählen.
Seit 2008 findet jedes Jahr Ende Februar der weltweite Tag der seltenen Erkrankungen statt. esanum begleitet den Tag und berichtet nicht nur über aktuelle Themen, sondern auch über mögliche Symptomkomplexe, Diagnostik, Therapieansätze und Orphan Drugs zur Behandlung von seltenen Krankheiten. Weitere Beiträge finden Sie im Themenspecial zum Rare Disease Day.