- Völkel L et al. Mit künstlicher Intelligenz schneller zur Diagnose seltener Erkrankungen – ein Gebot der Ethik, Ökonomie und Lebensqualität. Innere Medizin 2023; 64: 1033–1040. https://doi.org/10.1007/s00108-023-01599-7
Was Sie zu seltenen Erkrankungen wissen sollten
- Die Definitionen sind weltweit unterschiedlich. In den USA spricht man von einer seltenen Erkrankung, wenn landesweit nicht mehr als 200.000 Einwohner betroffen sind; in Europa bei weniger als 1 von 2.000.
- Es sind derzeit circa 8.000 seltene Erkrankungen bekannt.
- In Deutschland sind etwa 4 Millionen Menschen betroffen, weltweit sind es rund 300 Millionen.
- Mehr als 70 % der seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt.
- Viele Betroffene sterben bereits im Kindesalter. Eine normale Lebenserwartung hat nur etwa ein Drittel der Patienten.
Der typische Leidensweg von Menschen mit seltenen Erkrankungen lässt sich an folgendem Fallbeispiel gut illustrieren: Patient mit abdominellen Schmerzen und Fieberschüben seit dem vierten Lebensjahr, immer wieder wechselnde Entzündungsherde, im Verlauf Proteinurie und erhöhtes Kreatinin. Nach 39 Jahren steht die Diagnose: Tumornekrosefaktor-Rezeptor-assoziiertes periodisches Syndrom (TRAPS).
Dass eine solche Odyssee äußerst belastend für die Betroffenen ist, liegt auf der Hand. Doch nicht nur die Lebensqualität leidet unter der jahrelangen Unsicherheit, es fallen in der Zeit bis zur Diagnosestellung auch erhebliche Kosten an. Neben den direkten gesundheitlichen Aufwendungen für Arztbesuche und Untersuchungen sind es vor allem die indirekten Folgekosten durch Produktivitätsverluste und Arbeitsausfälle, die zu Buche schlagen und die wiederum auch die Betroffenen belasten.
Abhilfe könnte ein Instrument schaffen, das gerade in aller Munde ist und die Welt künftig in vielen Bereichen grundlegend verändern könnte: künstliche Intelligenz (KI). Erste Ansätze zur Detektion seltener Erkrankungen gibt es bereits. Ein in Deutschland entwickeltes Diagnoseunterstützungssystem liefert anhand angegebener Symptome differenzierte Diagnosevorschläge. In Untersuchungen erreichte das System bereits eine Genauigkeit von 89%. Die direkten Gesundheitskosten fielen durch die frühzeitige Diagnosestellung um bis zu 50% geringer aus.
Doch die Anforderungen an KI im Bereich der seltenen Erkrankungen sind hoch. Die Systeme benötigen große, hochwertige Datensätze mit zahlreichen Fallbeschreibungen. Doch genau die sind bei den „Seltenen“ naturgemäß rar. Daher sei hier weniger das klassische maschinelle Lernen zielführend als vielmehr KI-Systeme, die auf Wahrscheinlichkeitsmodellen beruhen und mit weniger Datensätzen dennoch probate Kategorisierungen vornehmen können, so die Forscher aus Hannover.
Eine weitere Herausforderung liegt im Bereich der Ethik. Sowohl die Datensicherheit muss gewährleistet sein als auch die Rechtssicherheit für die beteiligten Ärzte. Denn digitale Unterstützungssysteme sind lediglich Hilfsmittel; die Verantwortung für die Diagnosestellung bleibt weiterhin allein beim Arzt. Entsprechend nachvollziehbar müssen die KI-Empfehlungen sein. Und es ist Vertrauen nötig: zwischen Patienten, Ärzten und KI-Entwicklern.
Doch die Forscher sind zuversichtlich und sehen in der weiteren Entwicklung von KI ein enormes Potenzial. So könnten die Patienten irgendwann selbst mithilfe digitaler Unterstützungssysteme ihre Symptome angeben und verschiedene Diagnosevorschläge erhalten. Wenn sie damit zum Arzt gehen, hätten sie hoffentlich schneller Gewissheit über ihre Erkrankung und könnten sich einen langen Leidensweg sparen.
Seltene Erkrankungen sind komplex, variabel, meist unspezifisch und: eben selten. Das erschwert die Diagnose, die sich oft jahrelang hinzieht. Künstliche Intelligenz könnte diesen Prozess beschleunigen, was sowohl für die Betroffenen als auch gesamtgesellschaftlich eine enorme Entlastung wäre. Bis es soweit ist, ist allerdings noch viel Forschungsarbeit nötig. Die Wissenschaftler aus Hannover stehen dafür bereit.
Seit 2008 findet jedes Jahr Ende Februar der weltweite Tag der seltenen Erkrankungen statt. esanum begleitet den Tag und berichtet nicht nur über aktuelle Themen, sondern auch über mögliche Symptomkomplexe, Diagnostik, Therapieansätze und Orphan Drugs zur Behandlung von seltenen Krankheiten. Weitere Beiträge finden Sie im Themenspecial zum Rare Disease Day.