Wie häufig wird Insulin zum "Erbrechenüber die Niere" missbraucht? Was ist die Therapie der Wahl bei Bulimia nervosa? Worauf kommt es bei der „Ernährungsrehabilitation“ an? Antworten auf diese Fragen gab es beim WPA State-of-the-art Symposium "Essstörungen".
Sind Essstörungen ein "Stiefkind in der Psychiatrie"? So bezeichnete Prof. Beate Herpertz-Dahlmann (RWTH Aachen) das Thema bei ihrer Begrüßung zu einem State-of-the-Art-Symposium beim diesjährigen Weltkongress der Psychiatrie (WPA 2017).Der Saal war jedenfalls voll besetzt, schließlich sind Essstörungen in unserer Gesellschaft beileibe keine Rarität. Die Lebenszeitprävalenz liegt im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Frauen sind um ein Mehrfaches häufiger betroffen als Männer. Versuche mit Programmen zur Gewichtsreduktion werden in 16-30% der Fälle unternommen, vor Adipositas-Chirurgie sind es median 20%.
Iris Pollmann (Medizinische Hochschule Hannover) betonte mit Blick auf die DSM-5-Kriterien der Bulimia nervosa (BN) die übermäßig starke Abhängigkeit der Selbstbewertung von Gewicht und Figur: „Es ist wichtig, den Selbstwert der Patienten zu stärken!“ Bei 15-25% der BN-Patienten ist eine Anorexia nervosa (AN) in der Vorgeschichte zu eruieren.
Pollmann wies auf das zunehmende "Insulin-Purging" und die besonderen Zusammenhänge zwischen Diabetes Mellitus Typ I und Essstörungen hin: Insulin wird absichtlich unterdosiert oder weggelassen, um Glukosurie, Kalorienverlust und damit eine Gewichtsabnahme zu erreichen.
Dieses als "Diabulimics" oder "Erbrechen über die Niere" bezeichnete Verhalten findet sich bei bis zu 60% der Diabetikerinnen mit Essstörung – aber auch bei bis zu 30% der diabetischen Mädchen und Frauen ohne die psychiatrische Komorbidität. Pollmann hat Fälle mit HbA1c-Werten von bis zu 12% erlebt und mit Blutzucker-Spiegeln, die jenseits der oberen Skala des Messgeräts lagen. Den Patientinnen droht die frühzeitige Entwicklung von Spätkomplikationen.
Pollmann illustrierte an einem Fallbeispiel, wie wichtig es für den Therapeuten ist, das Essprotokoll einer Patientin mit Bulimie sorgfältig im Blick zu behalten. So sollte nach einem Tag mit Essanfällen auf die Kalorienaufnahme am Vortag geachtet werden. Sonst könnte eine von der Patientin gewünschte und therapeutisch sanktionierte Restriktion eventuell einen Kunstfehler darstellen – wegen einer möglicherweise gefährlichen Gewichtsabnahme.
Problematisch ist die häufig geringe oder ambivalente Veränderungsbereitschaft der Patientinnen mit Essstörungen hinsichtlich ihres ego-syntonen Verhaltens, also dem Gewichtsverlust bei der Anorexie und dem restriktiven Essverhalten bei der Bulimie. Die Therapie kann aber nur dann wirkungsvoll sein, wenn die Betroffenen dazu bereit sind.
Für die Therapeuten muss es also darum gehen, die Ambivalenz ihrer Patienten aufzugreifen und "Schulter an Schulter" mit ihnen gemeinsame Ziele zu definieren. "Die empathische Grundhaltung ist die wichtigste Herausforderung für den Arzt", so Pollmann. Zudem ist es wichtig, sich die Gegenübertragung bewusst zu machen.
Die Klinikerin weiß, wie schwierig der Therapieanfang für die Patientinnen ist: "Sie müssen gleich 'viel' essen und bekommen einen Blähbauch." Die Möglichkeit zum begleiteten Essen ist ein Vorteil der stationären Betreuung.
Wann sollten BN-Patienten für die teilstationäre oder stationäre Behandlung zugewiesen werden? Dafür gelten nach der S3-Leitlinie die folgenden Kriterien:
Pollmann wies darauf hin, dass sich die Deutsche S3 Leitlinie Essstörungen derzeit in Überarbeitung befindet. Die finale Konzertierung ist für Ende November angesetzt.
Hinsichtlich der Therapie gibt es eine klare Empfehlung: Das Behandlungsverfahren erster Wahl für Erwachsene und Jugendliche mit Bulimia nervosa ist die Psychotherapie (PT) (Evidenzgrad A). Am besten erforscht und mit der höchsten Evidenz belegt ist die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT), mit der Remissionsraten von 40-50% erwartet werden können. Die KVT sollte deshalb BN-Patientinnen als Therapie der ersten Wahl angeboten werden (Evidenzgrad B).
Alternativ kommen die ebenfalls wirksame Interpersonelle Psychotherapie (IPT) und psychodynamische Verfahren in Betracht. Für Letztere ist die vorhandene Evidenz allerdings recht begrenzt.
Auf bester Evidenzgrundlage (A) basiert die Erkenntnis, dass psychotherapeutische Behandlungen wirksamer als die alleinige Pharmakotherapie. SSRI stellen hinsichtlich Symptomreduktion, Nebenwirkungsprofil und Akzeptanz die medikamentöse Therapie der ersten Wahl in der Behandlung der BN dar (B).
In Deutschland ist nur Fluoxetin in Kombination mit Psychotherapie für diese Indikation zugelassen. Die wirksame Fluoxetin-Dosis ist bei der BN höher als bei der Depression (z. B. 60 mg Fluoxetin) (B). Ein Behandlungsversuch sollte sich über einen Zeitraum von mindestens 4 Wochen erstrecken. Schlägt die Therapie an, ist von einer längeren Behandlungsdauer auszugehen, so der Expertenkonsens.
Zu beachten ist bei der medikamentösen Behandlung der BN, dass eine Abstinenz selten erreicht wird und mit Rückfällen während der Erhaltungstherapie zu rechnen ist. Deshalb wird eine Kombination mit Psychotherapie gefordert. Medikamentöse Augmentationsstrategien wurden bisher nicht untersucht. Bupropion ist wegen des erhöhten Risikos für epileptische Anfälle kontraindiziert.
Zum Abschluss ihrer Darstellung zur BN fasste Pollmann die aus ihrer Sicht wichtigsten Aspekte einer "Ernährungsrehabilitation" so zusammen:
Referenz:
Abkürzungen: