Ist das psychotherapeutische Verfahren irrelevant für die Wirksamkeit? Haben Medikamente einen stärkeren Effekt bei Angststörungen?
Wissenschaftlich betrachtet erlebt die Psychotherapie mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen gerade spannende Zeiten. In mehreren Symposien des Weltkongresses der Psychiatrie, der in diesem Jahr in Berlin ausgetragen wurde, ging es um ihren Stellenwert und um Wirksamkeitsvergleiche. So auch beim State-of-the-Art-Symposium zu Angststörungen, bei dem sich Prof. Jürgen Hoyer von der Technischen Universität Dresden mit der Psychotherapie und ihren Wirkmechanismen auseinandersetzte.
Die internationale Literatur zu Angst und kausaler Mediation ist dünn gesät. Bei seiner Recherche im Web of Science stieß Hoyer nur auf 18 Einträge. Allerdings gibt es einige rezente Publikationen, die in Fachkreisen für Furore sorgen. Ist etwa die Psychotherapie bei Angststörungen weniger wirksam als die Pharmakotherapie? Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2015 mit Studiendaten von über 37.000 Patienten ermittelte als Prä-Post-Effektstärken für die Pharmakotherapie 2,02 und für die Psychotherapie 1,22. "Ich dachte eigentlich, die Psychotherapie sei der Mercedes unter den Behandlungsverfahren", kommentierte Hoyer dieses Ergebnis.
Anschließend rückte er die vermeintliche Überlegenheit der Medikamente zurecht: Einerseits ist der Vergleich von Prä-Post-Effektstärken in Metaanalysen methodisch nicht zuverlässig. Andererseits sind es gerade die als höchst problematisch zu bewertenden Benzodiazepine, die zu einer hohen pharmakologischen Effektstärke beitragen. Interessant ist auch die Tatsache, dass die Effektstärke (ES) von Placebo-Pillen in den letzten Jahren gestiegen ist. Den Grund dafür sieht Hoyer im verbesserten Studienmanagement, bei dem vermehrtes Kümmern auch zu einem stärkeren Placebo-Effekt führt. Zieht man die Placebo-ES von der Medikations-ES ab, landet Letztere bei < 1.
In der Praxis punkten die Medikamente allerdings mit ihrer überragenden Verfügbarkeit. Das sieht bei der Psychotherapie viel schwieriger aus, weshalb Hoyer in diesem Zusammenhang auf das Potenzial internetbasierter Interventionen verwies. Psychopharmaka sollten allerdings nur kurzfristig gegeben werden und nur, wenn es die Schwere der Erkrankung tatsächlich erfordert. Offen bleibt bisher die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine vorausgehende Pharmakotherapie die langfristig meist indizierte Psychotherapie jeweils fördert oder behindert.
"Jetzt ein Knüller" – mit diesen Worten leitete Hoyer zur nächsten Fragestellung über, die das Selbstbild der Psychotherapeuten tangiert: Ist das psychotherapeutische Verfahren bei Angststörungen irrelevant? In einer ganz aktuellen Metaanalyse mit 23 randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) zeigte sich bei insgesamt 2.751 Patienten verfahrensunabhängig überall die gleiche Effektstärke. Ein direkter Vergleich von psychodynamischer Psychotherapie (PDT) versus kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) wurde allerdings nur in vier Studien vorgenommen.
Hoyer gab auch zu bedenken, dass hier manualisierte Formen von psychodynamischer Psychotherapie am Start waren, die in der Praxis noch nicht verbreitet sind und auch zu neuem Verhalten (Exposition) ermuntern – also eine Überlappung zwischen den eher existenzialistisch und den eher mechanistisch orientierten Konzepten.
Im Unterschied zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie mit ihrem "Leuchtturm-Problem" ist die Verhaltenstherapie flächendeckend und weltweit verbreitet. Eine aktuelle Studie belegt zudem, dass die Wirksamkeit der KVT in der Routineversorgung keineswegs schlechter ist als in der kontrollierten Welt der universitären RCTs.
Das Fazit Hoyers zum "Update Wirksamkeit" lautete: Die Psychotherapie, insbesondere die KVT, bleibt die Methode der Wahl bei Angststörungen. Nach Auffassung des Experten sollten zukünftige Psychotherapie-Studien nicht nur gegen Wartekontrollgruppen testen. Außerdem sollten sie stärker Wirkprofile von Therapien vergleichen und nicht nur die Symptomreduktion als Outcome berücksichtigen.
Bei Angststörungen sind komplexe Prozesse betroffen. Mit einem klar definierbaren Defekt fehlt auch ein klar bestimmbarer "Heil-Mechanismus". Eine mögliche Beliebigkeit, die daraus resultiert, lässt immerhin Raum für Therapeuten-Präferenzen, so Hoyer. Ungeachtet der Logik des Vorgehens ist die Entfaltung von Überzeugungskraft von entscheidender Bedeutung, um positive Bewältigungserfahrungen und damit assoziierte Prozesse beim Patienten, wie Veränderungswillen und Selbstkontrolle, zu ermöglichen.
Wie sieht es nun bei den neuen Applikationsformen der Psychotherapie aus, sprich bei E-Mental-Health? Hier gibt es die internetbasierte Psychotherapie bzw. Internet-Therapie als Alternative zur schwerer zugänglichen Face-to-Face-Therapie. Bei den sogenannten Serious Games handelt es sich um "Computerspiele mit expliziter und sorgsam bedachter Bildungsabsicht". Unter Virtual Reality Exposure wiederum versteht man die Exposition des Patienten gegenüber angstbesetzten, virtuellen Stimuli in einer computergenerierten virtuellen Umwelt.
"Anxiety: There is an app for that." Diesen Titel trägt ein kürzlich publizierter systematischer Review. Aus 5.078 kommerziell verfügbaren Apps wurden 52 ausgewählt und analysiert. Bei über der Hälfte von ihnen liegt der Fokus auf Ängsten im Allgemeinen. Implementierte Interventionsansätze beruhen zu einem Drittel auf der KVT, bei den übrigen zwei Dritteln gibt es dazu keine Angabe. Die verwendeten Techniken decken eine große Bandbreite ab, sind aber nicht in ein therapeutisches Rationale integriert. Bei mehr als der Hälfte der mobilen Angebote fehlen Angaben zur psychologischen Ausbildung der Entwickler, nur in zwei Fällen gibt es Informationen zur empirischen Evidenz. Richtlinien zur Erstellung von Apps für die psychische Gesundheitsfürsorge und eine evidenzbasierte Überprüfung fehlen bisher.
Die Internet-Therapie hat sich bei sozialer Angststörung bereits als sehr erfolgreich erwiesen. Sie könnte das Verfügbarkeitsproblem von Psychotherapie nach Ansicht Hoyers erheblich mildern. Der Verhaltenstherapeut vermutet, dass in der Praxis "blended therapy", also die Kombination aus Face-to-Face- und internetbasierten Angeboten, von Therapeuten und Patienten am besten angenommen werden wird. Andere neue Applikationsformen erscheinen ihm bei sozialer Angststörung dagegen weniger aussichtsreich.
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