Die Pharmakotherapie von Diabetes mellitus Typ 1 ist auf dem DDG-Kongress ein viel diskutiertes Thema, Prof. Jochen Seufert von der Universitätsklinik Freiburg erklärt im esanum-Interview den Stand der Diskussion.
esanum: Prof. Seufert, welche Neuigkeiten der Pharmakotherapie des Typ-1-Diabetes beschäftigen Sie gerade?
Prof. Seufert: Auf dem Symposium, das der Pharmakotherapieausschuss beim Kongress traditionell ausrichtet, ging es wieder um kontroverse Themen der medikamentösen Therapie im Bereich des Diabetes mellitus, wie zum Beispiel die Co-Medikation über Insulin hinaus bei Menschen mit Typ-1-Diabetes. Da geht es beispielsweise um Medikamente wie GLP-1-Rezeptor-Agonisten, die Herz und Niere schützen, die übergewichtige Menschen abnehmen lassen, die möglicherweise die Glukoseeinstellung verbessern - die aber für Menschen mit Typ-1-Diabetes nicht zugelassen sind.
esanum: Worin besteht die Kontroverse?
Prof. Seufert: Kontrovers ist, dass im Moment das Paradigma gilt, dass wir Typ-1-Diabetes ausschließlich als Insulinmangel-Diabetes sehen und demnach nur Insulin ersetzen müssen, damit die Blutglukose normalisiert ist. Im Bereich des Typ-2-Diabetes haben wir ganz andere Ziele. Da wollen wir nämlich durch geeignete Medikamente auch Herz und Nieren schützen. Und diese Medikamente werden Menschen mit Typ-1-Diabetes noch immer vorenthalten. Doch es gibt eben Menschen mit Typ-1-Diabetes, die übergewichtig sind, die ein hohes kardiovaskuläres Risiko haben, die zum Beispiel ein größeres Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall haben. Es gibt Medikamente, die ihnen helfen könnten, das kardiovaskuläre Risiko zu senken. Und wir können sie ihnen nicht geben.
esanum: Es geht um die sogenannte Abnehm-Spritze?
Prof. Seufert: Richtig. Wir setzen die sogenannte Abnehm-Spritze in der Diabetologie präferentiell bei Typ-2-Diabetes zur Behandlung der Zuckererkrankungen ein, aber eben natürlich auch zur Gewichtsabnahme. Und früher galten Menschen mit Typ-1-Diabetes als die schlanken Menschen, die eben nur Insulin benötigen. Aber wenn sie älter werden, dann legen auch die Menschen mit Typ 1 an Gewicht zu und entwickeln kardiovaskuläre Risikofaktoren, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen etc. Und das wird im Moment zu wenig berücksichtigt.
esanum: Geht es dabei auch um die Bezahlbarkeit?
Prof. Seufert: Ja, das ist aber zunächst nicht das Problem. Wir brauchen erst einmal mehr Studiendaten, die den Benefit für Menschen mit Typ 1-Diabetes zeigen, damit diese Medikamente evidenzbasiert auch bei Menschen mit Typ-1-Diabetes eingesetzt werden können. Dazu muss man wissen, dass 95% der Betroffenen einen Typ-2-Diabetes haben. In Deutschland gibt es vielleicht 500.000 Menschen mit Typ-1-Diabetes. Kommerzielle Interessen werden hier also nicht so sehr der Treiber sein, eher medizinische Interessen.
esanum: Und wie gehen Sie nun als DDG vor? Wie holen Sie weitere Interessierte ins Boot?
Prof. Seufert: Wir diskutieren zum Beispiel hier auf unserem Kongress. Das ist ein wissenschaftlicher Fachkongress und wir nähern uns dieser Problematik sowohl von der Patientenseite als auch von der wissenschaftlichen Seite her und mahnen an, dass hier eine Forschungslücke besteht. Es könnten mehr Menschen in den Genuss protektiver Faktoren kommen als derzeit. Jetzt bekommen sie nur Insulin. Das ist natürlich überlebenswichtig, weil diese Menschen kein eigenes Insulin produzieren, aber meiner Ansicht nach ist es eben nicht ausreichend, um zusätzliche Risikofaktoren bei diesen Menschen adäquat zu behandeln.
esanum: Das heißt, Studiendaten fehlen, aber Sie sind sicher, dass GLP-1-Agonisten bei Typ-1-Diabetikern diese segensreichen Wirkungen haben würden?
Prof. Seufert: Es gibt einige Studiendaten und neuere GLP-1-Rezeptor-Agonisten oder Co-Agonisten werden auch in dieser Hinsicht untersucht. Es gibt zum Beispiel umfangreiche Studiendaten für SGLT-2-Inhibitoren, die bei Typ-2-Diabetes eingesetzt werden und die dort eben kardiovaskulären Benefit und auch renale Protektion gezeigt haben. Und es gibt Studiendaten für Typ-1-Diabetes, allerdings nicht im Hinblick auf Endpunkte, sondern für die verbesserte Diabetes-Einstellung, für geringere Glukose-Variabilität. Diese Daten sind vielversprechend, sodass man die gleichen oder ähnlich positive Effekte auch für Menschen mit Typ-1-Diabetes erwarten kann. Eines dieser Medikamente, das Dapagliflozin, war sogar schon für Typ-1-Diabetes zugelassen, ist aber im Moment nicht mehr verfügbar. Die Firma hat es vom Markt genommen mit der Begründung, dass die Keto-Azidose-Gefahr unter diesen Medikamenten erhöht sei. Das stimmt auch formal. Wenn man diese Medikamente allerdings bei den richtigen Menschen einsetzt, also bei übergewichtigen Typ-1-Diabetes-Patienten, Menschen mit hohem Insulinbedarf, was ja auch vor Ketoazidose schützt, haben sie tatsächlich einen sehr guten Benefit gezeigt.
esanum: Wie optimistisch sind Sie, dass die Interessen von Menschen mit Typ-1-Diabetes auf die Dauer kein Stiefkind der diabetologischen Forschung mehr sein werden?
Prof. Seufert: Im Moment sind diese Medikamente unter Patentschutz. Das heißt, es müsste eine Koalition geschmiedet werden zwischen der Pharmaindustrie, die diese Medikamente herstellt, und den forschenden Wissenschaftlern. Wir sind eine Community, die sich präferentiell um die Behandlung von Menschen mit Typ-1-Diabetes kümmert und einen Fokus auf diese Erkrankung hat, dort trifft das Thema auf breites Interesse. Es geht schließlich um Menschen, die uns Diabetologen und Diätologinnen tatsächlich für ihr Überleben brauchen. Für uns sind sie also ganz sicher kein Stiefkind - und schon gar nicht in der Deutschen Diabetesgesellschaft. Aber die Weiterentwicklung von neuen Medikamenten für diese Krankheitsentität wird im pharmazeutischen Bereich vielleicht ein kleines bisschen als Stiefkind betrachtet. Dagegen treten wir an.
Prof. Dr. Jochen Seufert leitet die Abteilung Endokrinologie und Diabetologie der Klinik für Innere Medizin II am Universitätsklinikum Freiburg.