Dysosmobacter welbionis: Neu entdecktes Bakterium gegen Adipositas?

Das Bakterium Dysosmobacter welbionis wird in der Darmflora gebildet. Bei Mäusen konnte es die negativen Folgen schlechter Ernährung ausgleichen. Könnte es bei Menschen gegen Übergewicht eingesetzt werden? Und was bedeutet dies für den Umgang mit adipösen Patienten?

Neu entdeckt und wirkmächtig - bei Mäusen

Die aktuelle westliche Kultur – das muss wohl auch angesichts verschiedener relativierender Tendenzen wie etwa Plus-size-Models noch immer so formuliert werden – ist voller Vorurteile gegenüber adipösen Menschen. Diese Vorurteile gehen bis in die Antike zurück, die das Ideal von “mens sana in corpore sano“, eines gesunden Geistes in einem gesunden Körper, spätestens ab Platon formulierte. Gemeint ist mit “corpore sano” zumindest heute immer ein gesund anmutender, d. h. schlanker und trainiert wirkender Körper. Ein nicht so schlanker, nicht so trainierter Körper wird in unserer Kultur sehr oft mit fehlender geistiger Zielorientierung verbunden. Nur so lässt sich das berühmte Flehen von Shakespeares putschgefährdetem Julius Caesar verstehen: “Let me have men about me that are fat” – denn den dicken Menschen traut er weniger Aggressivität, Führungsneid und Mordabsichten zu.

In diesem Vorurteil drücken sich wenigstens zwei unbewiesene Annahmen aus. Einerseits, dass Körperbild und geistige Eigenschaften miteinander korrelieren. Andererseits, dass sich unser Körperbild durch unseren Willen kontrollieren oder bestimmen ließe. Beides ist falsch. Die Lehre der Physiognomik sollte spätestens seit dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland ad acta gelegt sein. Der Beeinflussung der Körpererscheinung durch den Willen sind enge Grenzen gesetzt – und zwar vielleicht noch engere als bereits bekannt ist, wie die hier dargestellte Studie an Mäusen nahelegt.

Einem despektierlichen Naserümpfen ist dabei entgegenzustellen, dass D. welbionis ein häufiger, bislang jedoch wissenschaftlich nicht beschriebener Bestandteil des menschlichen Darm-Mikrobioms ist. Untersuchungen an großen, wissenschaftlich erfassten menschlichen Stuhlprobensammlungen haben gezeigt, dass D. welbionis ein natürlicher Bestandteil der Darmflora von knapp 70% aller erfassten (gesunden) Menschen ist. Mehr noch: Es besteht bei übergewichtigen Menschen eine umgekehrte Korrelation zwischen der Anzahl von D. welbionis in der Darmflora und dem BMI, dem Nüchtern-Glukosespiegel im Plasma und HbA1c. Außerdem siedelt sich D. welbionis selbst bei hoher täglicher Zufuhr lebender Keime nicht dauerhaft in Mäusen an.

Untersucht wurde speziell der Stamm J115T von D. welbionis. Dabei erwies sich, dass die Gabe von 1 x 109 lebenden Keimen pro Tag bei Mäusen auf einer fettreichen Diät (HFD) die Entstehung von ernährungsinduziertem Übergewicht verhinderte und bei bereits übergewichtigen Mäusen die mesenterischen und subkutanen Fettreserven erheblich reduzierte.

Verminderung des Fettgewebes und verbesserte Glukose-Toleranz

Das Darm-Mikrobiom der Mäuse wurde durch die D. welbionis J115T-Gabe nicht verändert. Zwar wurde eine leichte Modifikation der Morphologie des Darms behandelter Mäuse beobachtet, jedoch ohne, dass es zu einer Beeinflussung der Absorption kam. Auch fanden sich keinerlei Hinweise auf ein Entzündungsgeschehen im Darm in Folge der Keim-Applikation, welches die Effekte der D. welbionis J115T-Gabe hätte erklären können.

Bei den Mäusen auf HFD verminderte D. welbionis J115T die Zunahme des Fettgewebes und verbesserte die Glukose-Toleranz. Der Durchmesser der Adipozyten der Mäuse nahm ebenso ab wie die Entzündungsstärke im Fettgewebe. Im braunen Fettgewebe der Tiere nahm die Anzahl der Mitochondrien zu, was sich letztlich in einer Temperaturerhöhung bei den Tieren um 0,25 °C niederschlug, wie sie bei einer erhöhten Aktivierung der Fettreserven zu erwarten war.

Wie bei Mäusen so beim Menschen?

Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen um Tiphaine Le Roy von der Université catholique de Louvain in Brüssel sehen durch ihre Ergebnisse in den Mäuseexperimenten die beobachteten Korrelationen zwischen D. welbionis J115T und Übergewicht sowie Diabetes-Parametern beim Menschen gestützt. Nach ihrer Auffassung spreche die Studie für eine direkte Beeinflussung des Stoffwechsels durch D. welbionis J115T, da keine Veränderungen im Mikrobiom der Tiere durch die Gabe von D. welbionis J115T festgestellt wurden.

Unbekannt ist bisher der Mechanismus, über den D. welbionis J115T die genannten Effekte bei Tieren und Menschen auslöst. Als potentieller Mediator komme Butyrat infrage, das von dem Bakterium produziert werde. Allerdings ließ sich weder im Plasma noch im Darm der Tiere ein erhöhter Butyrat-Spiegel nachweisen. 

Zusammengenommen wiesen die Daten auf einen möglichen positiven Effekt von D. welbionis J115T bei diät-induziertem Übergewicht und Diabetes hin. Die Forscher erkennen in D. welbionis J115T daher ein potentiell therapeutisch nutzbares Bakterium.

Damit wirft die Studie zwei Fragen auf. Die konkret-praktische ist, in welchem Umfang sich die Effekte der D. welbionis J115T-Gabe auch beim Menschen einstellen werden?

Mehr Zurückhaltung gegenüber Übergewichtigen

Die gesellschaftlich-medizinische Frage hingegen berührt den medizinisch-professionellen wie den allgemeingesellschaftlichen Umgang mit Übergewichtigen. Wenn die Entdeckung eines noch vor wenigen Monaten unbekannten Bakteriums die Möglichkeit einer neuen Therapie von Übergewicht und seinen Folgen nahelegt, was ist dann von den oft zumindest indirekt vorwurfsvollen Forderungen an übergewichtige Menschen zu halten, sie sollten ihren Kalorienkonsum absenken und ihre körperliche Aktivität erhöhen, um abzunehmen?

Sollte der Nachweis eklatanter Wissenslücken über die Zusammenhänge zwischen Nahrungsaufnahme und Mikrobiom-vermittelten Nahrungswirkungen im Organismus nicht zu mehr Zurückhaltung gegenüber Übergewichtigen führen? Die Wahrheit scheint ja zu sein, dass die Medizin noch immer viel zu wenig über die Entstehung von Übergewicht weiß, um vorurteilsbehaftete und diskriminierende Aspekte wie etwa “Willensschwäche” überhaupt diskutieren zu können. Die mechanistisch-übersimplifizierte Annahme einer rein physikalischen Beziehung zwischen Energiezufuhr und deren Folgen im Organismus ist falsch, das zeigt auch die hier vorgestellte Studie. Es ist sehr zu bezweifeln, ob Speck auf den Rippen seiner Mörder Cäsar hätte davonkommen lassen. Und entsprechend sollten Mediziner Zurückhaltung üben, wenn der nächste adipöse Patient vor ihnen sitzt.

Quelle:
Le Roy T, et al. Dysosmobacter welbionis is a newly isolated human commensal bacterium preventing diet-induced obesity and metabolic disorders in mice. Gut 2022; 71: 534–543.