Gastroenterologische Verantwortung angesichts des Klimawandels

Die Covid-19-Pandemie hält derzeit Medizin und Gesellschaft in Atem. Dennoch sollten andere wichtige Themen nicht aus den Augen verloren werden. Erst recht nicht, wenn deren Bedeutung die der aktuellen Virusinfektion auf lange Sicht noch übersteigt.

Experten erwarten schwere Folgen für gastroenterologische Gesundheit

Die Covid-19-Pandemie hält derzeit Medizin und Gesellschaft in Atem. Und auch wenn ein Ende derzeit nicht absehbar ist, so sollten andere wichtige Themen darüber nicht aus den Augen verloren werden. Erst recht nicht, wenn deren Bedeutung die der aktuellen Virusinfektion auf lange Sicht noch übersteigt.

In einem Kommentar, der gleichzeitig in drei führenden gastroenterologischen Fachzeitschriften erschienen ist, weisen Autoren um Desmond Leddin, Vorsitzender des Clinical Research Committee der World Gastroenterology Organization (WGO), als Climate Change Working Group (CCWG) der WGO, auf die Verantwortung von Gastroenterologen und gastroenterologischen Fachgesellschaften angesichts des Klimawandels hin.1 Der Klimawandel sei die größte gesundheitliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts und werde schwerwiegende Folgen auch für die gastroenterologische Gesundheit der Weltbevölkerung nach sich ziehen. Darüber hinaus sei die Gastroenterologie auch selbst Ursache erheblicher Umweltschäden.1

Klimawandel und Verlust der Biodiversität

Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) hat in seinen Berichten festgehalten, dass die Erderwärmung aufgrund des Klimawandels teilweise großen regionalen Schwankungen unterliegt. So werde beispielsweise eine mittlere Erwärmung der Erdoberfläche um 2 °C in der Arktis zu einem Anstieg der Oberflächentemperatur von rund 5 °C führen. Diese Veränderungen würden zwingend zu Veränderungen der Niederschlagsmenge und damit der Luftfeuchtigkeit und der Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln führen.

Medizinisch noch bedeutsamer als Durchschnittstemperaturen seien allerdings Größen wie die Anzahl der Tage mit Temperaturen oberhalb der aktuellen 90%-Perzentile, da hierbei ungewohnte und gesundheitlich bedenkliche Belastungen aufträten. Gleiches gelte u. a. auch für die Niederschlagsmenge. Schwere und Starkregenfälle hätten oft gravierendere Auswirkungen auf Ernährung, Landwirtschaft und Sicherheit der Menschen als eine Zu- oder Abnahme der durchschnittlichen Jahresniederschlagsmenge erahnen lassen.

Auch die Biodiversität nähme weltweit weiterhin ab. Die Natur verliere Rückzugsräume. Dadurch gerate der Mensch zunehmend in Kontakt zu Spezies, mit denen Begegnungen zuvor nur sehr selten stattfanden. Dies erhöhe die Pathogenübertragung aus der Natur auf den Menschen – mit Folgen wie der aktuellen Covid-19-Pandemie.2

Als weiteres hochakutes Umweltproblem identifizieren Leddin et al. die zunehmende Belastung der Natur durch Müll, Toxine und Chemikalien. Gerade Chemikalien könnten zu Veränderungen der Darmflora führen.3

Ernährung und Wasser

Es ist bekannt, dass durch die globale Erwärmung die Getreideernten weltweit geringer ausfallen  und zusätzlich die Qualität des geernteten Getreides abnehmen werde. Beides werde zu einer Zunahme der Unterernährung beitragen, die gegenwärtig etwa 0,5 Mrd. Menschen beträfe. Gleichzeitig drohe eine Zunahme von Übergewicht in der Restbevölkerung, da die Adipositas bei leichter bis mittlerer gesellschaftlicher Unsicherheit vermehrt auftrete.4

Aktuell trage die Nahrungsproduktion mit etwa 25% zu den Treibhausgasemissionen bei. Bei wachsender Bevölkerung und abnehmender Ertragskraft sei jedoch nicht nur mit einer Zunahme dieses Anteils zu rechnen. Auch Pestizid- und Düngemitteleinsatz dürften bei gleichzeitiger Reduzierung naturbelassener Flächen zunehmen.

Bereits gegenwärtig lebten 40% der 7,9 Mrd. Menschen in Regionen mit knappen oder zu geringen Wasservorräten. Diese Vorräte geraten durch die intensivierte Landwirtschaft weiter unter Druck, zu der aufgrund der steigenden Meeresspiegel auch noch eine zunehmende Salzbelastung in den Küstenregionen hinzutrete. Der hohe CO2-Eintrag führe zur Übersäuerung der Ozeane und bedinge verschlechterte Lebensbedingungen für Muscheln, Korallen und einige Planktonarten. Dies führe zusammen mit der weltweit verbreiteten Überfischung dazu, dass auch das Meer als Nahrungsressource verkümmere.

Geographische Verschiebung von gastrointestinalen Krankheitsbildern

Zahlreiche gastrointestinale Krankheiten wie etwa chronisch entzündliche Darmerkrankungen wiesen geographische Verbreitungsmuster auf. Es sei daher anzunehmen, dass die weltweiten Veränderungen des Klimawandels auch bezüglich geografischer Krankheitsmuster zu Veränderungen führen werden. Ebenso steige der Druck zur Migration, was zu einer zusätzlichen weltweiten Durchmischung gastrointestinaler Krankheitsbilder führe. Gastroenterologen sollten sich daher frühzeitig auf bislang für ihre Weltregion untypische Krankheitsbilder einstellen und durch Fortbildung vorbereiten.

Das gelte insbesondere für Infektionskrankheiten wie u.a. die Cholera, deren Erreger aufgrund der wärmeren Meere inzwischen auch im nordwestlichen Nordamerika und in der Ostsee wieder anzutreffen sei. Hepatitis A und E würden infolge der veränderten landwirtschaftlichen Produktion zunehmen, ebenso sei mit einer Ausbreitung der Schistosomiasis und der Exposition gegenüber Giften wie Aflatoxinen zu rechnen.

Was sollten Gastroenterologen und ihre Fachgesellschaften tun, um gegenzusteuern?

Die Autoren heben die starke Abhängigkeit der gastroenterologischen Versorgung von einer funktionierenden Infrastruktur hervor. Erwärmung des Klimas und Chaotisierung des Wettergeschehens könnten diesbezüglich bedrohliche Folgen haben. Die Wissenschaftler:innen rufen daher dazu auf, möglichst umgehend die Versorgungsinfrastruktur auf die veränderten Lebensbedingungen vorzubereiten und sie zu schützen.

Wenig beachtet werde darüber hinaus vielfach der Beitrag der Medizin zu den Umweltbeeinträchtigungen. So sei die Gesundheitsversorgung in den USA für 8% der CO2-Belastungen des Landes verantwortlich und trage in Form nicht-wiederverwendbarer Abfälle erheblich zum Müllaufkommen bei.5 Enorme Müll-Belastungen entstammten speziell der Endoskopie. Pro Untersuchung fielen rund 1,2 kg nicht-wiederverwendbaren Plastikmülls an, der sich allein für die rund 11 Mio. jährlichen Koloskopien in den USA zu einem Berg von 13.200 Tonnen Plastikmüll addiere. Nur die Radiologie erzeuge noch mehr Plastikmüll.

Bereits aktuell engagierten sich 19 gastroenterologische Fachgesellschaften innerhalb des CCWG für die Reduzierung der von ihnen ausgehenden Umweltbelastungen. Im Fokus stünden dabei die Reduzierung von Treibhausgasen und Plastikmüll.

Drei Schwerpunkte bildeten die Grundlage der anzustrebenden Umweltverträglichkeit:

  1. Die Förderung einer umweltverträglichen Gesetzgebung;
  2. Ausbildung und Information über die Umweltfolgen des gastroenterologischen Handelns;
  3. Zusammenarbeit mit der Zielsetzung der Reduktion der Umweltbelastung, insbesondere zur Vermeidung von Reisen zu Kongressen und ähnlichen Veranstaltungen, wie es sich durch die Covid-19-Pandemie bereits etabliert habe. Die Industrie solle zur vermehrten Produktion wiederverwendbarer Medizinprodukte ermutigt werden.

Zudem solle der Austausch zwischen den gastroenterologischen Gesellschaften zu regionalen Krankheitsbildern und deren kosteneffizienter Behandlung gefördert werden, welche insbesondere für und in ärmeren Ländern Bedeutung habe. Der Klimawandel und seine medizinischen Folgen seien nur durch eine globale Kooperation sinnvoll und effektiv zu begrenzen.

Quellen:
1. Leddin D, et al. Uniting the Global Gastroenterology Community to Meet the Challenge of Climate Change and Non- Recyclable Waste. Gastroenterology. 2021; 161: 1349-1730. https://doi.org/10.1053/j.gastro.2021.08.001 - zeitgleich erschienen auch in den Zeitschriften Gut und Journal of Clinical Gastroenterology.
2. Ostfeld RS. Biodiversity loss and the rise of zoonotic pathogens. Clin Microbiol Infect 2009; 15: 40–43. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1198743X14604122
3. Claus SP, et al. The gut microbiota: a major player in the toxicity of environmental pollutants? NPJ Biofilms Microbiomes 2016 May
4.; 2:16003. Erratum in: NPJ Biofilms Microbiomes 2017; 3: 17001. https://www.nature.com/articles/npjbiofilms20163 4 Swinburn BA, et al. The global syndemic of obesity, undernutrition, and climate change: the Lancet Commission report. Lancet 2019; 393: 791–846. Erratum in: Lancet 2019;393:746. https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0140673618328228
5. Williams JA, Kao JY, Omary MB. How can individuals and the GI community reduce climate change? Gastroenterology 2020; 158:14–17.  /article/abs/pii/S0016508519414522